Rut Bernardi
Ivuere hat seine Identität verloren
von Rut Bernardi
Er torkelt umher, schlendert durchs Dorf und kehrt in jedes offene
Gasthaus ein. Er hat seine Identität verloren. Sie ist ihm einfach
abhanden gekommen. Er weiss nicht, wie so etwas überhaupt passieren
konnte. Plötzlich ist es vorbei. Man weiss nicht mehr wer man ist, wo
man ist und was man ist. Im Dorf grüssen ihn die Leute und sprechen ihn
freundlich an. Sie stellen ihm Fragen und er schafft es, sich sehr
geschickt durchzuschwindeln. Er hat nicht seinen Verstand verloren. Das
würde man doch sofort bemerken, aber niemand wundert sich über ihn oder
über seine Antworten. Er funktioniert noch wie früher. Nur, er weiss
nichts mehr über sich selbst.
Es muss übers Wochenende passiert sein. Allmählich wird er neugierig,
doch er traut sich nicht nachzufragen. Es kann auch nicht im Dorf
passiert sein. Es hätte ihn sonst jemand beobachtet und Bescheid
gewusst.
Er kreuzt einen Freund, der ihn auf ein Glas Weisswein einläd.
Unauffällig fragt er, wie es ihm gehe und ob er das Wochenende gut
verbracht habe.
"Ja, danke, es war sehr schön, nur etwas kalt war es am Gardasee. Aber
das weisst du doch, oder nicht?" "Ja, ja, natürlich, ich war doch dabei. Ich wollte nur wissen, wie es dir gefallen hat?" Nun weiss er
wenigstens, wo er übers Wochenende war.
"Und die Rückreise gestern Abend war auch gut, nicht wahr?" "Ja, aber
warum fragst du danach? Wir haben in Bozen noch was gegessen und sind
dann nach Hause gefahren. Erinnerst du dich nicht mehr?"
"Doch, doch, ich habe nur was verloren und wollte nochmal nachfragen, wo wir überall angehalten haben."
"Was hast du denn verloren?"
"Oh, nichts Wichtiges, ich werde es schon wiederfinden. Übrigens, könnte ich mal in deinem Auto nachsehen, ob es dort liegt?"
"In meinem Auto? Aber wir sind doch nicht mit meinem Auto gefahren, wir
hatten doch deines." "Ach ja, was bin ich nur zerstreut heute morgen. Ja dann wird es wohl wieder auftauchen. Ich muss jetzt weiter. Bis bald."
"Aber musstest du heute nicht in die Schule?"
"In die Schule? Ach, weisst du, heute ist schulfrei."
"Eigenartig, das wusste ich gar nicht."
"Ja, ja, nur an unserer Schule wird heute gefeiert. Also bis dann. Ciao."
Wie? Er ist Lehrer? Und heute ist er einfach nicht in die Schule
gegangen? Du Schande. Wie sollte er denn das wissen? Und ein Auto hat er auch? Jetzt heisst es die Ruhe bewahren und überlegen. Er geht nach
Hause. Sein Zuhause kennt er ja noch, denn er ist ja schliesslich heute
Morgen dort aufgewacht. Er setzt sich an den Tisch und denkt nach.
Dieses Dorf muss sein Dorf sein. Daran ist kein Zweifel. Er ist Lehrer
und unterrichtet an einer Schule. Fragt sich nur was und an welcher?
Heute hat er also die Schule geschwänzt. Er besitzt auch ein Auto. Aber
wo steht dieses Auto? Vielleicht liegt sie ja im Auto, seine Identität?
Er stellt die ganze Wohnung auf den Kopf, um nach Spuren zu suchen. Doch er findet nichts worauf sein Name steht. Keinen Ausweis, keinen Brief,
keine Urkunde und kein Zeugnis. Wie ist denn das nur möglich? Das gibt
es doch gar nicht. Er kann unmöglich das Haus verlassen. Er ist völlig
durcheinander. Er muss seinen Freund um Hilfe bitten. Aber wie heisst
sein Freund und wo wohnt er überhaupt? Das kann doch nicht wahr sein. Er legt sich auf den Boden und weiss nicht mehr weiter. Da läutet das
Telefon. Das Telefon? Also gibt es ihn doch noch. Man kennt ihn.
"Hallo!"
"Pronto, parlo con il signore Ivuere D.? Qui la stazione dei carabinieri di Trento." "Si, sono io."
Er kann es doch wenigstens versuchen.
"Abbiamo trovato il suo portafoglio con tutti i documenti, patente,
carta d¹identitá, passaporto e visa. Se vuole venire a ritirarlo."
"Oh, vielen Dank, natürlich, ich werde sofort nach Trient kommen und alles abholen."
Plötzlich fällt ihm wieder ein, wo sein Auto steht, wie sein Freund
heisst, welches sein Dorf ist, was er unterrichtet, an welcher Schule
und wie er heisst.
Schade, diese Schwerelosigkeit stand ihm gar nicht so schlecht. Das
Gewicht des Seins hat ihn wieder eingeholt. Etwas traurig sperrt er die
Wohnung ab und fährt nach Trient.