Sigrid Daenzer-Brandtner

2003

Ich putze Häuser,

von Sigrid Daenzer-Brandtner

Wohnungen. Montag vormittag den Coiffeurladen, am Nachmittag die Wohnung der Besitzerin. Dienstags zwei Wohnungen in der Innenstadt, im gleichen Haus, zwei Paare um die vierzig, die sich kennen. Gute Nachbarschaft. Von den einen an die anderen weiter vermittelt. So hat es immer am besten funktioniert. Mittwoch bei einem alten Ehepaar, vormittags putzen und Ordnung machen, nachmittags Besorgungen. Donnerstag das Haus des Augenarztes, am Nachmittag die Praxis. Freitag vormittag frei, jedenfalls im Moment. Nachmittags eine Wohnung in einem Haus direkt am See, eine wunderbare Aussicht, wenn man Zeit dafür hätte; natürlich reiche Leute.
Bei dem Augenarzt bin ich nun schon seit acht Jahren. Und bei dem alten Ehepaar seit fünf. Ich mache meine Arbeit ruhig, schnell und gewissenhaft. Ich komme pünktlich und zuverlässig, und ich denke, die Leute schätzen das. Ich stelle keine Fragen, und ich will auch nicht, dass man mich viel fragt. Ich habe nichts zu erzählen. Ich komme nicht deswegen. Ich komme, um zu arbeiten. Das ist alles, mehr erwarte ich nicht. Den Arzt und die beiden Ehepaare sehe ich ohnehin fast nie, die Besitzerin des Coiffeurladens auch nur selten. Bei der Familie am See hüte ich manchmal auch noch abends das Kind, aber dann ist sonst niemand zu Hause, und der Kleine spricht noch nicht. Jedenfalls nicht so, dass man sich unterhalten könnte. Regelmässig sehe ich nur das alte Ehepaar. Sie ist ein schweigsamer Mensch, aber er redet gerne. Vor allem von früher. Als er noch jung war und Ideale hatte und eine Zukunft. Und das Land verteidigt hat, jedenfalls mitgeholfen. Fast tausend Tage Aktivdienst. Frontwälle und Bunker. Die Grenze gesichert, so gut es nur ging. Die Berge eine einzige Festung. Wir hätten gekämpft bis zum letzten Mann. Gegen den Feind, gegen Hitler. Aber Fragen hat auch er nie gestellt, und ich bin froh darüber. Und zugleich ein wenig enttäuscht. Aber was hatte ich denn erwartet. Was hatte ich erwartet, als ich hergekommen war. Natürlich wusste er, aus welchem Land, aus welcher Stadt. Und was dort geschehen war, zumindest ungefähr. Aber da war es schon wieder Jahre her. Verblasst für die Welt und beinahe schon wieder vergessen.
Manchmal tätschelt er mir die Hand: Sie machen ihre Arbeit gut, wir sind sehr froh, dass wir sie haben. Mehr nicht. Und erzählt weiter vom Warten auf den Einmarsch, der dann doch nie kam, von den kalten Nächten, in denen er Wache schieben musste, von alten Kameraden. Setzen Sie sich zu mir, trinken wir einen Tee. Gut, sage ich, aber dann muss ich weitermachen.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Jetzt habe ich es gut, ich bin zufrieden. Ein Zimmer für mich allein, fast eine kleine Wohnung, genügend Kleider und zu essen, ein bisschen Vergnügen und Luxus dann und wann. Viel mehr brauche ich nicht. Zwei, drei gute Freunde. Mit den Behörden habe ich noch nie Ärger gehabt, zum Glück, in zehn Jahren keine einzige Kontrolle. Ein Wunder eigentlich. Und doch wieder nicht: es gibt so viele wie mich. Zweimal im Jahr fahre ich zurück, seit acht Jahren. Zwei Wochen zu Hause, ich sage noch immer zu Hause, das wird wohl so bleiben, auch wenn vieles nicht mehr so wie früher ist. Nie mehr wie früher sein kann. Sicher, der Schutt ist längst weggeräumt, die Häuser wiederaufgebaut, und die Touristen kommen wieder. Aber die Toten kehren nicht zurück. Natürlich hätte ich zurückgehen können. Aber ich habe es nicht getan. Ich bin hier geblieben.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Wenn die Leute zufrieden sind, bin ich es auch. Wenn das Kind im Haus am See lacht, freue ich mich. Aber wenn es begeistert zum Himmel zeigt, sobald es ein Flugzeug hört, kann ich noch immer nicht lachen, selbst wenn es nur ein Passagierflugzeug ist. Und wenn es später mit Pistolen oder Gewehren herumlaufen sollte oder gar auf andere zielen, werde ich ihm die Waffe aus der Hand nehmen, es an den Schultern packen, ihm fest in die Augen schauen und leise, aber eindringlich sagen, dass das kein Spiel ist: Krieg. Und es wird nichts begreifen, gar nichts, wie sie alle nichts begreifen und auch ich nichts begriffen habe - bis man es selbst erlebt.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Ich bin zufrieden, was habe ich schon erwarten können, ich bin geblieben, eine Fremde unter Fremden, eine von vielen, von denen man nichts weiss und nie viel wissen wollte, ich habe nichts zu erzählen, ich stelle keine Fragen, ich bin nur einfach da, mehr nicht.