Stefanie Erdrich
Gefangen an Orten
von Stefanie Erdrich
Ausgerechnet mit dem Kind in ihrem Leib hatte sie fliehen wollen. Nur sieben Wochen bis
zur Geburt, doch diesmal war die Entscheidung endgültig. „Wir gehen weg
von hier“, sagte sie laut zu dem Kind. „Wir – gehen – weg.“ Endlich
wollte sie wagen, eine Wohnung zu nehmen in ihrer alten Heimatstadt.
Doch dann überfielen sie Schmerzen in ihrem Bauch. Obwohl es heute in
ihr so still gewesen war. Sie war alleine im Haus, eine Flucht in
Abwesenheit ihres Mannes. Atmen, sie erinnerte sich an die Worte der
Hebamme, ruhig atmen. Sie rief ein Taxi, vielleicht nur Fehlalarm. Es
waren noch sieben Wochen bis zur Geburt.
Die Hebamme suchte und suchte nach Herztönen. Auf dem Ultraschall sah
der Arzt kein Lebenszeichen. Sie fanden nichts, weil nichts mehr da war. Ob sie ihren Mann verständigen wolle. Die Wehen wurden stärker. „Nein“, sagte sie, „Nein“. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Schmerzen
ja, doch nicht solche, so etwas nicht. Geburt, so weit war sie noch
nicht. Eine Geburt soll Leben bringen. Sie musste dieses Kind gebären,
mit dem Wissen, dass nichts Lebendes dabei herauskommen würde. Sie
ekelte sich vor diesem toten Ding in ihrem Bauch. Was für eine Mutter
war sie, deren Kind schon im Entstehen aufgab, in ihr drin. Dabei war es gewachsen, genau wie andere Kinder. Ihr Puls und sein Puls, ihr Blut
und sein Blut waren Eins gewesen. Ihr Herzschlag und seiner. Wie konnte
es sein, dass es einfach aufgehört hatte? Und ihr Körper machte weiter,
als sei nichts geschehen. Ausgerechnet an diesem kalten, gekachelten Ort würde sie aufhören, diese Verbundenheit zwischen ihr und dem Kind. Es
gab kein „wir“ mehr. Es gab nur ein Kind, das aufgehört hatte, in ihr
drin. Es war allein in der Dunkelheit, es traute sich nicht, die
Anstrengung, die Schmerzen auszuhalten. Und das Kind beschloss, es sein
zu lassen. Wie konnte ein Kind einfach beschließen, es sein zu lassen?
Niemand gab ihr eine Erklärung dafür. Sie hätte sich gerne an etwas
festgehalten, wenigstens irgendein Anzeichen dafür, dass es nicht ihre
Schuld war.
Koffer ein- und wieder ausgepackt. Zu oft in den letzten Jahren. Immer
wieder war sie gegangen und zurückgekehrt. Dann stand ihr Koffer
unausgepackt, tagelang neben ihrem Schrank in ihrem Schlafzimmer. Nach
jeder missglückten Flucht, nach jeder Rückkehr lag ihre Kleidung,
zusammengefaltet, zerknittert, unberührt. Der Koffer verschlossen, als
könne sie ihre Entscheidung zu gehen darin aufbewahren. Der Koffer blieb unausgepackt. Sie trug so lange Kleidung, die noch im Schrank hing, bis nichts mehr da war. Weit entfernt von diesem Ort voller Kindheit. Es
war ihr nie klar gewesen, wie verwurzelt man an einen Ort sein konnte.
Sie sehnte sich nach ihrer Stadt, die in keinem Reiseführer stand, weil
sie nicht schön war. Sie ging erst zurück in das Dorf, wenn ihre
Schwester sie wegschickte. Weil sie nicht endlos in deren Familie wohnen konnte und nicht wusste, wohin sonst. Den Mut alleine zu sein, fand sie nicht. Nicht mal in den vertrauten Straßen, in denen sie aufgewachsen
war. Die sie verlassen hatte, sechs Jahre zuvor, einem Mann zuliebe,
sich selbst zuliebe. Warum nur hatte sie sich nie gewöhnen können an das Liebliche, an die Ruhe, die Menschen. Beobachtet fühlte sie sich, keine Kraft hatte sie, Kommentare abzuwehren. Sie verhielt sich anders als
die, die hier geboren waren. Ihr Mann begann es ihr vorzuwerfen, obwohl
er so viel Geduld mit ihr hatte. Schrecklich viel Geduld. Es war
friedlich, das hatte sie gedacht bei ihrem ersten Besuch auf dem Dorf.
Er hatte geschwärmt davon, dass alle sich kennen, dass es dieses anonyme Großstadtgefühl nie wieder geben würde. Sie träumten gemeinsam, dass
ihre Kinder hier aufwachsen würden, an diesem sicheren Ort voller Wiesen und Blumen. Gut, wenn Kinder Kühe und Hasen und Bäume nicht nur aus
Büchern kennen. Doch es hatte keine Kinder gegeben, denen sie all das
hätte zeigen können, dem all das eine Heimat geworden wäre.
Was für ein Wort, „Ausgeschabt“. Als sei sie eine Frucht, deren Inneres
man herausnehmen könnte. Das Kind war ein Teil ihrer selbst, ohne den
ihr Körper überleben konnte. Wäre es in ihr geblieben, würde sie
dahinsiechen. Weil Totes, eingeschlossen in Lebendiges, das Lebende
tötet. Einfach aufhören. Hatte sie nicht auch schon daran gedacht? Als
sie die Münze auf die Schienen legte. Wie ein sichtbares Zeichen dafür,
was mit allem passiert, das unter diese Räder kam. Sie hatte den
reißenden Fahrtwind des Zuges in ihrem Gesicht, an ihrem Körper gespürt, dann nach dem Metall gesucht wie ein Goldgräber. Gefunden, platt
gewalzt. Seitdem hatte sie die Münze bei sich getragen, es war ihr
Trost, der Fahrtwind hatte ihren Körper berührt.
Als sie endlich schwanger geworden war, vor sieben Monaten, hatte er ihr das Versprechen abgenommen. Dass sie nun bleiben würde bei ihm auf dem
Land. Sie war eine Außenseiterin, fürchtete sich vor den Blicken und dem Wissen um alles, was sie tat. Sie sehnte sich nach der Stadt. Nach den
Straßen voller Menschen, in die sie eintauchen konnte. Versunken im
Schutz der namenlosen Gesichter. „Ich werde nie wieder allein sein“, das hatte sie gedacht. Sie hatte ihm das Versprechen gegeben, damals, mit
dem Kind in ihrem Bauch.
Jetzt gab es kein „wir“ mehr. Sie zählte Kacheln hoch und quer, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie grün oder blau waren. Alleine auf
einer Pritsche in diesem Raum. Gut sauber zu halten von Keimen, von
Blut. Leicht abwaschbare Kacheln und Chrom. Durch die Schiebetür hörte
sie die Stimme ihres Mannes, der mit dem Arzt redete. Er war gekommen,
nichts blieb verborgen in diesem Dorf. Schon gar nicht eine
hochschwangere Frau, die in ein Taxi stieg. Sie wollte ihn nicht sehen
und doch - was hätte sie darum gegeben, nicht alleine zu sein. Sie
zählte die Kacheln. Wenn sie den Faden verlor, fing sie von vorne an.
Immer rechts, gleich neben der Tür, begann sie mit der Eins. Eins, ihr
erstes Kind. Damit fing alles an und damit hatte es schon aufgehört. Sie lag und zählte, ihre Kleidung ein weißes Laken, festgeknotet in ihrem
Nacken. Herausgepresst das tote Kind.
Sie hörte ein schleifendes Geräusch, die Schiebetür öffnete sich langsam und er trat ein. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er sich
näherte. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Wie in Watte
eingehüllt fühlte sich ihr Kopf an, ihr Körper. Ihre Augen hafteten auf
diesem Grün oder Blau. Er setzte sich an ihr Bett und legte seinen Kopf
an ihre Schulter. Sie würde ihm sagen müssen, dass zu Hause der Koffer
stand. Gepackt für sie, für das Kind. Ihr Kind. Nie hatte sie daran
gedacht, dass es auch so kommen könnte. Sie war nicht darauf
vorbereitet. Einfach aufhören zu sein. Sie war ausgehöhlt wie eine faule Frucht. Das Loch, wie sollte es zuwachsen, das Kind hatte etwas
mitgenommen aus ihr, sie war nur noch teilweise da, etwas von ihr war
gestorben. Der Tod ihres Kindes, noch ehe sie Mutter geworden war. Sie
war ein Nichts, nicht schwanger, nicht Mutter. Und doch Mutter von
diesem Ding, diesem Kind, herausgeschabt, ausgeschnitten aus ihrem
Bauch. Wohin war es gegangen? Wollte sie nicht auch längst schon weg
sein? War es alleine? Sie war alleine. Sie musste es aushalten. Da waren sie wieder, die Arztworte. Nicht lebensfähig. Lebensfähig, wer war das
schon, es gab genug Menschen, die lebten und waren nicht fähig dazu.
Es war friedlich in ihr. Jetzt, in diesem Raum, mit ihrem Mann an der
Seite, kam dieser Gedanke. So friedlich wie in einer toten Landschaft.
„Wo ist es?“, fragte er. Sie wusste es nicht. Sie hatte es nicht sehen
wollen. Es war kein Kind, es hatte nicht ihr Kind werden wollen. Sie war zurückgeblieben, ohne den Teil in ihr, es war weggeflogen. Weg das
Kind, sie konnte nicht denken. Nur die Kacheln zählten in ihrem Leben.
Wer war dieser Mann, der ihr das Versprechen abgenommen hatte. Zu Ende
seine Geduld. Er wolle ihn nie wieder sehen, diesen Koffer. Nicht länger ertragen, ihre Flucht. In ihrem Schlafzimmer, an diesem Ort, wo sie
gemeinsam gewohnt hatten, stand der Koffer mit ihren Sachen. Heute
Morgen hatte sie sich entschieden. Nun saß er neben ihr, sah sie an. Im
Aufstehen wischte er sich über sein Gesicht und ging Richtung Tür. „Ich
will es sehen“, sagte er. Sie wollte protestieren, doch ihre Zunge war
ein Wattebausch, der Körper Eins mit der Pritsche. Das Laken klebte an
ihr, aus dem Haaransatz rollten Schweißtropfen auf ihre Stirn. Die
grün-blauen Kacheln waren Bedrohung, die Flurstimmen wurden lauter.
Seine Schritte nicht zu hören auf dem gekachelten Boden. Sie hatte sich
entschieden an diesem Morgen und sie musste es ihm sagen. „Warte“,
flüsterte sie, er drehte sich um. Vor welcher Einsamkeit hätte sie sich
jetzt noch fürchten sollen.