Christian Zeier

Lara

Am Strand stand ein Mädchen mit braunen Zöpfen, auf dem Kopf eine rote Mütze, die Augen gross, den Mund offen, am Boden eine Leine, ein Hund, weiss mit hellbraunen Flecken, der ein nasses Bündel anbellte.
Zwei Sekunden stand das Mädchen so da, dann begriff es und rannte - den Strand hinauf, auf die Strasse, weiter, immer weiter, den Olivenbäumen entlang, bis zu den ersten Häusern des Dorfes. Erst hier lehnte es sich an eine Mauer, liess sich zu Boden sinken, vor Erschöpfung keuchend, das Gesicht in den Händen. Ein Lastwagen fuhr rückwärts aus einer Fabrikeinfahrt. Juno kam angerannt, wedelte mit dem Schwanz, legte seine Pfoten auf die Beine des Mädchens, ganz so, als wollte er es trösten. Und während das Tier seinen Kopf an ihren Körper schmiegte, fielen ihm, nach und nach, kleine Tränen auf das Fell.

Laras Mutter war Lehrerin, ihr Vater ohne Arbeit. Zumindest im Winter. Lara liebte den Winter, den echten, weil er für sie war wie Ferien. Wenn es kalt wurde und die Touristen langsam verschwanden, verbrachte Papa ganze Tage zu Hause. Dann gingen sie zusammen Fischen und spielten Backgammon, sie hatten Zeit, Geduld, und sogar Mama war manchmal entspannt. Im Winter, das hatte sie mal ihrer Freundin Anna erzählt, gab es nie Streit zu Hause. Im Winter, dem echten. Doch jetzt war es kalt, Dezember zwar, aber Winter war es nicht.
Laras Vater führte die kleine Taverne am Hafen und die Pension Niki gleich nebenan. Für gewöhnlich waren die Zimmer im Winter geschlossen und die wenigen Kunden im Café wurden von Artemis bedient, der Aushilfe. Gewöhnlich aber war jetzt nicht. Seit Monaten kamen die jungen Leute, die mit Mietautos den Strand abfuhren und am Abend in den Cafés sassen. Die zwei Hotels im Dorf waren längst voll, also öffnete im November auch Laras Vater seine Pension. «Wenn der Sommer so hart wird, wie alle erwarten», sagte Papa, «dann müssen wir jetzt umso mehr profitieren.»
Also verbrachte Lara die Wochenenden oft alleine, die Mutter half in der Pension und nur Juno war zu Hause. Sie sah die Eltern beim Frühstück, beim Nachtessen, Mama bei der Fahrt in die Schule und Papa hin und wieder im Dorf. Zeit aber hatte keiner für sie. Ein richtiger Winter war das nicht, dachte Lara. Der richtige Winter musste warten – wegen all dieser Leuten in den Booten. «Das ist nur dieses Jahr», hatte Mama gesagt. Und immer wieder: «Du musst dich gedulden.»
Gedulden. Wie sollte sie sich gedulden, wenn sie doch in der Schule ganz andere Sachen hörte? Geschichten, die ihr Angst machten und Dinge, die sie daran zweifeln liessen, ob der Winter jemals wiederkehren würde. Sie hörte von Menschen, die aus dem Wasser gefischt wurden. Von Menschen, die am Strand lagen. Von Kriminellen und Schmugglern. Lara glaubte nicht alles, was die anderen erzählten, das tat sie nie. Aber irgendwas davon musste doch stimmen? Seit die Boote kamen, riss der Strom der Geschichten nicht mehr ab. Wer konnte da noch sagen, was stimmte und was nicht? Ihre Eltern vielleicht. Aber die schwiegen lieber.
Dimitros hatte in der Pause erzählt, dass er Kinder gesehen habe, unten am Strand, die barfuss liefen. So richtig ohne Schuhe, in der Kälte, auf dem Kies, hinauf in Richtung Molyvos. Kinder, sagte Dimitros, die ganz sicher nicht von hier waren. Nicht aus Molyvos, nicht aus Skala Sikamineas, wahrscheinlich nicht einmal aus Athen. Komische Mädchen habe er gesehen, mit langen Kleidern und Tüchern auf dem Kopf. Bunten Tüchern. Das war ihr geblieben: Die Mädchen mit den bunten Tüchern. Das wollte sie sehen. Sie wusste, dass sie es nicht durfte. Aber in diesem Winter interessierte sich ja eh niemand für sie.

«Was hast du denn heute gemacht?» Lara schreckte auf, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. Die blickte sie an und Lara schaute auf ihren Teller. Stocherte mit der Gabel in den Spaghetti rum. «Warst du bei Anna zu Hause?» Lara nickte und konzentrierte sich auf die Gabel, die sie jetzt drehte und hob. Nur nicht aufblicken, einfach schlucken, wenn sie Mamma jetzt in die Augen sah, war alles vorbei. Sie konnte nicht gut lügen und schon gar nicht jemandem ins Gesicht. «Alles in Ordnung, Schatz?» Lara nickte wieder. «Wie geht es Anna?» «Gut», sagte Lara und ärgerte sich sogleich, dass ihre Stimme lauter und wütender klang als beabsichtigt. «Ich habe keinen Hunger», sagte sie leiser. «Darf ich gehen?» Ohne eine Reaktion abzuwarten, stand Lara auf und rannte in ihr Zimmer. Noch bevor sie die Türe schliessen konnte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

Als im August die Boote kamen, begann sich das Leben in Skala Sikamineas zu verändern. Zuerst langsam, kaum merklich, dann laut und deutlich. Am Anfang waren es die Geschichten und Gerüchte in der Schule. Dann fuhr Mama nicht mehr der Küste entlang wenn sie nach Molyvos gingen. Zu viele Menschen, hatte sie gesagt. Und sowieso: Die obere Strasse sei besser geteert. Dann erklärte ihnen Frau Basdeki, dass sie mit der Klasse nicht mehr an den Strand gehen würden. In Molyvos schon, auch in Petra, aber nicht mehr im Norden, nicht dort wo die Boote kamen. Diese Boote.
Wegen der Boote, hiess es immer wieder, wegen der Boote könne man nicht und wegen der Boote müsse man das. Und dann sagte ihr Vater, sie müssten reden und sie wusste gleich, dass es nichts Gutes war. Weil: Es war nie etwas Gutes, wenn Papa sagte, wir müssen reden. «Mama und ich möchten, dass du in nächster Zeit nicht an den Strand gehst», sagte er. «Du hast ja von den vielen Leuten gehört. Im Moment ist es besser, wenn du in der Nähe bleibst. Du kannst ja hier spielen oder oben im Dorf, ja? Verstehst du?» Mama hatte danebengesessen und einfach nur genickt. «Ein paar Wochen vielleicht», hatte sie gesagt, «dann wird es vorbei sein». Also hatte auch Lara genickt. Aber als sie fragte, was denn mit den Leuten sei, die da kämen, und mit den Mädchen mit den Tüchern, den bunten,  da sagten sie nichts und schauten einander nur komisch an. «Das Meer ist gefährlich im Moment», sagte Papa. «Es sind besondere Zeiten.» Damit war das Gespräch beendet.
Lange war Lara an diesem Abend wach gelegen und hatte sich gefragt, was denn plötzlich so gefährlich war am Meer. Noch nie hatte sie ihre Eltern das sagen hören. Beide waren auf der Insel geboren worden, beide waren weggegangen, aufs Festland, und beide waren zurückgekehrt. Weil sie das Leben vermissten, auf der  Insel, am Meer. Und jetzt war es plötzlich gefährlich, dieses Wasser.

Es klopfte an der Zimmertür. «Darf ich reinkommen?», fragte ihre Mutter. Lara hatte gewusst, dass sie kommen würde. Mama wusste, dass Lara warten würde. Sie trat ein und setzte sich neben ihre Tochter aufs Bett. «Willst du mir etwas erzählen? Du weisst, dass wir über alles sprechen können.» Lara schniefte und sagte nichts. Natürlich wollte sie erzählen! Und natürlich wollte sie nicht. «Juno…», sagte sie. «Juno ist an den Strand gelaufen, und ich hinterher, und dann waren wir dort und Juno hat gebellt und da war dieses Bündel, diese Kleider und die Haare und…» Wieder fing Lara an zu weinen. Mama rückte näher und umarmte sie fest. «Alles ist gut», sagte sie. «Alles wird wieder gut.»
Lara wollte etwas sagen, sie wollte sich entschuldigen, wollte fragen wieso es gut werden würde, wollte weinen und schreien, aber ihre Mutter drückte sie noch immer ganz fest. Sie strich ihr über die Haare und flüsterte ihr ins Ohr: «Alles ist gut. Ein paar Monate, dann ist alles wieder gut.»
Also schniefte Lara und sagte nichts. Ihr Atem ging langsamer, tiefer, die Nähe der Mutter, ihr Duft beruhigte sie. Als kein Ton mehr zu hören war, liess die Mutter ihre Tochter los, legte sie sanft aufs Bett und küsste ihre Stirn. Lara schloss die Augen und wartete, bis die Tür auf- und wieder zugegangen war. Erst da riss sie die Augen auf, starrte an die Decke, kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, immer wieder, bis das Bild, das sie verfolgte, nicht mehr da war.
Drei Stunden lag sie in dieser Nacht wach, dann fielen ihr endlich die Augen zu. Unruhig wälzte sich das Mädchen hin und her, schreckte auf, schlug um sich, als kämpfte sie mit den Wellen im dunklen Meer. Und als es draussen endlich hell wurde, als die Sonne aufging an diesem Morgen im Dezember, da wusste Lara, was ihre Eltern wussten, was alle wussten auf der Insel - dass nichts mehr so sein würde wie früher. Der Winter nicht, das Meer nicht und auch sie selbst nicht mehr. Das Bild in ihrem Kopf - sie würde es nie wieder vergessen.
Die rote Schwimmweste über der lila Jacke.
Die blaue Jeans und die schwarzen Stiefelchen.
Die Arme ausgestreckt, wie zur Umarmung.
Das bleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen.
Die dunklen Haare im Sand.