Jasmine Keller

gehörnt

Mit Nebel hat er nicht gerechnet, es ist kaum Kontrast gegeben, die Linien des Berges sind unscharf, das Hospiz und die wenigen anderen Gebäude auf der Passhöhe, inklusive den Strommasten, wirken verloren im Weiss. Trevyon hat in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Kriegsfotograf viele Orte fotografiert, von denen es hiess, sie könnten nicht fotografiert zu werden, doch dieses Gotthard-Projekt erscheint ihm nun tatsächlich je länger desto unmöglicher. Er schüttelt müde den Kopf, wie er da im Schnee steht, die schwere Ausrüstung auf dem Rücken, alleine seit Monaten auf der Suche nach einem Blick in die Seele der Nation. Er war als Kind oft mit seinem Vater auf dessen Motorrad hier hochgefahren. Dann hatten sie eine Bratwurst gegessen und Vater hatte erzählt, wie der Grossvater hier Dienst geleistet hatte. Doch an Sommer ist nicht zu denken und Vater und Grossvater sind lange tot, so bleibt Treyvon nichts als auszuharren mit sich selbst und den Geistern seiner Vergangenheit, die diffus in seiner Steinhütte hängen und ihn vom Denken und Schlafen abhalten. Diese trieben ihn auch heute hinaus, auf die Suche nach dem Bild, das irgendetwas ausdrückt.
Doch wie er hier auf diesem Felsvorsprung steht, sieht er nichts als Grau in Grau. Er seufzt, wischt mit der Hand den Neuschnee von einem windexponierten Stein und setzt sich hin, er schliesst die Augen und konzentriert sich für einen Moment auf die Stille. Es gibt durchaus Geräusche hier oben, wenn in der Nähe eine Lawine gesprengt wird beispielsweise, aber jetzt gerade ist es so still, dass ihm sein eigenes Atmen fast unanständig laut erscheint.
Als er die Augen wieder öffnet, sieht er sie.

Sie steht etwa hundert Meter von ihm entfernt, mitten auf dem zerklüfteten Plateau, gekleidet in ein Gewand aus Fell und mit grossen, nach hinten gebogenen und spitz zulaufenden Hörnern auf dem Kopf.
Sie blickt nicht in seine Richtung, steht nur aufrecht da, die rechte Hand ruht auf einem Stock, den sie in den Schnee gestellt hat.
Treyvon vergisst in diesem Moment seinen Fotografeninstinkt und geht, ohne die Kamera zu zücken, auf sie zu. Ihre Haut sieht aus wie bemooste Baumrinde. Treyvon würde gerne näher an sie herangehen, sie anfassen, sie sieht rau aus. Doch er bleibt in sicherer Distanz stehen und wartet, bis sie langsam ihren Kopf und Blick zu ihm hin dreht. Auch ihre Augen haben die Farbe von Moos, Treyvon kann nicht wegschauen und wundert sich darüber, dass er nichts zu ihr sagt und sie vor allem nichts fragt. Doch in seinem Kopf herrscht Stille. Bis sie schliesslich den Mund öffnet und mit tiefer Stimme sagt: «Ich bin hier, um dir den Weg zu zeigen.» Treyvon beobachtet, erstaunlich unerstaunt, wie sie sich von ihm abwendet und hinkend, auf ihren Stock gestützt, über die tief verschneite, steinige Ebene geht. Er beginnt ihr zu folgen, ohne sich bewusst dafür zu entscheiden. Die Gehörnte ist schnell und Treyvon kämpft sich so gut es geht durch das unwegsame Gelände. Schliesslich verschwindet sie hinter einem Felsvorsprung und als er etwas später dort eintrifft, ist sie verschwunden und er sieht nur eine geöffnete Bunkertür.
Treyvon betritt den langen, von surrenden Neonröhren beleuchteten Stollen. Seine Augen müssen sich erst an das neue Licht gewöhnen. Doch auch blinzelnd erkennt er, was für ein aussergewöhnlicher Ort dies ist. Er holt die Kamera aus dem Rucksack und geht gleichzeitig weiter in den Berg hinein. Es hängen alte Informationstafeln an der Wand, ein Kruzifix und ein Bild von General Guisan. Er fotografiert, aber den Fotos fehlt eine Brechung, eine unerwartete Note. Er geht weiter und erblickt sein Spiegelbild in einem aufgehängten Metallteller. Er, ein junger Schwarzer Mann, gespiegelt in einem Militärteller, in einem Bunker auf dem Gotthard, er lächelt, knipst aber nicht. Er hielt schon immer die Verwendung von Körpern als Bildmetaphern für verantwortungslos, denn sie werden immer auf die schlimmstmögliche Weise ausgelegt. Er geht weiter und hält die Kamera bereit, denn der Flur endet und nach links eröffnet sich ein grosser Raum mit vielen Tischen und Bänken, Metallregalen mit Geschirr und rechts an der Wand einem langen Metalltrog, an dem eine uniformierte Person steht und etwas abspült.
Schnell schiesst Treyvon ein paar Bilder, bevor es allenfalls verboten wird, und sagt dann, mit seiner wohlgeübten, selbstsicheren Stimme: «Grüezi», in den Raum hinein. Die Person in Uniform dreht sich um und kommt auf Treyvon zu. Dieser schätzt den Mann, der einen feinen Schnauz trägt, auf etwa fünfzig. «Ah, Grüezi wohl!», sagt der Mann und wischt sich die Hände an der Uniform ab, um dann seinem Gast die Hand hinzustrecken. Treyvon ist erleichtert über die freundliche Reaktion, aber auch etwas überrascht, dennoch ergreift er die Hand und will sich vorstellen. Doch der auffällig blasse Mann kommt ihm zuvor: «Ich habe Sie schon vor einigen Wochen erwartet, Herr Frey.» Treyvon runzelt die Stirn, wieso kennt der Herr seinen Namen? Dieser stellt sich derweil vor mit: «Adjutant Unteroffizier Meienberg.» Und fügt, streng, aber nicht unfreundlich hinzu: «Hier, setzen Sie sich. Sie haben doch Zeit für einen Kaffee? Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.» Er deutet auf eine Bank und geht ohne eine Antwort abzuwarten zum Geschirregal, offenbar um Tassen zu holen. Treyvon schaut sich um, setzt sich dann hin, hält aber seine Kamera fest, als könnte er durch sie einen gewissen Realitätssinn bewahren.
Adjutant Unteroffizier Meienberg kommt mit einem Tablett zurück und setzt sich vis à vis von Treyvon auf die Bank. Kaffee, Zucker und sogar Kaffeerahm. Treyvon bedankt sich; wie lange der Adjutant wohl schon in diesem Bunker ist? «Wo bin ich hier?», fragt Treyvon. Und Meienberg antwortet, während er für beide Kaffee in die Tassen giesst: «In der Gotthardfestung.» Sein Ton weiterhin punktgenau, aber mit einer gewissen Wärme. Er stellt Treyvon die Tasse hin, dieser gibt Rahm und Zucker in den Kaffee und fragt: «Arbeiten Sie hier?» Zum ersten Mal lächelt nun Meienberg und antwortet: «Ich verwalte den Nationalmythos.» Der Stolz in seiner Stimme ist unüberhörbar. Treyvon rührt in seiner Tasse, bis der Zucker sich auflöst. «Im Grunde genommen bin ich Archivar», fügt Meienberg an. Der Kaffee schmeckt wunderbar süss und verleitet Treyvon dazu zu fragen: «Und warum bin ich hier?»
Meienberg stellt seine Tasse leer zurück aufs Tablett und sagt: «Sie, Herr Frey, sind meines Wissens hier, um sich den Mythos anzuschauen?» Treyvon sagt erst mal nichts, zuckt nach einer Weile mit den Schultern und meint dann: «Ja, wahrscheinlich ist das so.» Für einige Minuten schweigen beide, bis Meienberg schliesslich aufsteht und sagt: «Kommen Sie.»

Sie gehen durch den Esssaal und betreten einen grossen Raum, der offensichtlich eine Bibliothek ist. «Darf ich fotografieren?», fragt Treyvon. «Wenn Sie das wünschen, bitte.» Meienberg öffnet eine Holztür zwischen zwei Regalwänden und lächelt dabei verschmitzt: «Allerdings ist der Mythos hier drin» und hält die Tür offen, sodass Treyvon an ihm vorbei in ein kleines Zimmer treten kann, in dem sich einige Polstersessel, ein Cheminée, in dem ein Feuer brennt, und eine Holztruhe befinden.
Meienberg deutet auf die Truhe, geht an Treyvon vorbei, kniet sich auf den Teppichboden und öffnet ihren mit Metall beschlagenen Deckel. Dann winkt er Treyvon heran und zieht unter dessen gespanntem Blick eine Decke heraus. Sie scheint mehrfach gefaltet in der Breite, wie in der Länge. «Er ist genau zwölf Meter einundneunzig breit», dabei kann er sich ein leises Lachen nicht verkneifen, «aber die Länge, die kann erweitert werden bis ins Unendliche.» Es ist eine Patchworkdecke, die aus vollkommen unterschiedlichen Materialien besteht. Einige der zusammengenähten Quadrate scheinen gehäkelt, andere sind aus Leder, Treyvon tritt ganz nahe hin. Ein Stück ist sogar aus Glas, mit Löchern an allen vier Seiten, sodass es eingenäht werden konnte. Meienberg zieht die Decke noch ein Stück weit aus der Truhe und legt sie dann auf den Boden. Treyvon kniet sich nieder, streicht über ein Stoffquadrat mit einer Kinderzeichnung drauf. «Sehr sonderbar», sagt er und fährt mit den Fingern vorsichtig über die Nähte, die die Quadrate zusammenhalten. «Ich nähe sie zusammen», erklärt Meienberg, «eingereicht werden die Teile von allen möglichen Leuten, Schulklassen und so.»

Während Treyvon noch die einzelnen Quadrate befühlt und betrachtet, holt Meienberg aus einer kleinen Kommode hinter der Tür ein Stück Stoff und spannt es in einen kleinen Stickrahmen. «Was wünschen Sie für Garnfarben, Herr Frey?», fragt er, während er den Rahmen festzieht. Treyvon richtet sich auf: «Was meinen Sie?» Dann sieht er, womit Meienberg hantiert, und schüttelt den Kopf: «So etwas kann ich nicht, Herr Meienberg. Ich bin Fotograf!» Meienberg wirkt unbekümmert: «Stellen Sie sich vor», sagt er, «wie toll die Fotografie wird, wenn Ihr eigenes Motiv miteingenäht ist.» Treyvon schüttelt weiterhin abwehrend den Kopf. Meienberg sagt nur: «Ich kann Ihnen zeigen, wie ein Kreuzlistich funktioniert, aber sobald Sie es in der Hand haben, werden Sie sich ohnehin wieder an den Textilkundeunterricht erinnern.» Treyvon setzt sich in einen der Sessel und lässt es über sich ergehen, dass ihm Meienberg Nadel und aufgespannten Stoff in die Hände gibt und eine Schachtel mit verschiedenfarbigen Garnen auf die Beine stellt. «Ja, aber, was für ein Motiv soll ich denn überhaupt sticken?» Seine Stimme klingt ratlos. Meienberg setzt sich in einen zweiten Sessel, er scheint gerade dabei zu sein, mehrere Strickstücke miteinander zu verbinden, und blickt Treyvon nachdenkend an. «Wissen Sie noch, wie Sie hergekommen sind?», fragt er. Treyvon nickt: «Eine gehörnte Frau aus Baumrinde hat mich hergeführt.» Er hatte es fast vergessen. Meienberg zieht eine Augenbraue hoch, «Hm», macht er nur und schweigt.
Das Feuer knistert und irgendwann beginnen Meienbergs Stricknadeln leise zu klicken.
Treyvon hört sich atmen. Die Zeit ist anders hier.
Er wählt ein helles Braun, ein mattes Lindgrün und ein Schwarz aus der Garnkiste. «Hörner», sagt er. Und Meienberg murmelt nickend, ohne von seiner eigenen Arbeit aufzublicken: «Hörner klingen gut.»