Marina Bolzli

2008

Das Kind

von Marina Bolzli

Die Gabel drückt auf die Haut. Es gibt Druck. Immer mehr Druck, vier Einbuchtungen. Kleine Täler. Sie drücken auf den Magen. Und dann, in einem Bruchteil von einer Sekunde dringt sie ein, die Gabel, in das Fleisch. Mit allen vier Zacken gleichzeitig. Gleichgültig. Und jetzt steckt sie tief drin.
Das Kind hat eine gellende Stimme. Fast scheppernd. Jaulend. Jammernd.
Ob es überhaupt ein Kind ist, ist schwer zu sagen. Die Grösse ist entsprechend. Die Form unförmig. Die Zähne hervorstehend, voneinander abstehend. Scharfen spitzen Zacken gleich. Ein kleiner Schnurrbart, vielleicht ein Damenbart. Ich weiss es nicht.
Ich weiss es nicht. Es lacht. Es redet. Faselt etwas. Es lacht. Ich schaue weg, drehe mich um, sehe es ständig vor mir. Grinsend. Vor mir die Wurst. Die Gabel steckt tief drin. Saftig. Das Kind lacht, jauchzt, vielleicht schreit es auch, wimmert. Ich tauche es ins Ketchup. In den Mund damit. Es schmeckt nicht, schmeckt nicht mehr. Das Kind hat mir den Appetit verdorben. Es lacht. Ich schreie. Es lacht. Es lacht weiter in mir. Immer weiter. Ich kriege es nicht aus den Ohren. Nicht aus dem Magen. Und ich schreie. Niemand glaubt mir. Höhnisch lachen alle. Im Chor mit dem Kind. In mir. Um mich. Aus mir. Ich schreie, renne, renne schreiend. Sie folgen. Es folgt. Hat eine grosse Gabel in der Hand. Der Teufel wirds wohl sein. Schreit es. Höhnisch verfolgt es sein Opfer. Die Zähne, die Zacken, sie dringen immer ein, ins Fleisch. Verfehlen nie. Mein Fleisch. Es ist zäh, zäher als die Wurst. Es gibt kaum Dellen. Ha! Ich schreie. Ihr kriegt mich nicht. Ich schreie. Ihr kriegt mich nicht. Niemals.

Das Kind war nicht immer da. Mal war es woanders. Mal war es auf der Strasse, neben dem Fussgängerstreifen, unter dem Lieferwagen. Rannte darunter. Blieb liegen. Der Lieferwagen fuhr weiter. Das Kind stand wieder auf. Lachte und wischte sich die Reifenspuren vom T-Shirt. Dort waren Dellen. Vier Einbuchtungen. Es rannte lachend auf mich zu. Breitete die Arme aus und machte den Mund mit den Zacken-Zähnen auf. Ich schrie. Alle lachten. Meinen Lieferwagen liess ich stehen. Er fuhr weiter. Ohne mich.
Mal war es woanders. Mal war es im Supermarkt, im Regal mit den Konserven. Hinter den Würstchen im Glas. Den grossen, fetten Würsten im zähflüssigen Schleim. Es versteckte sich. Ich sah es. Es wollte, dass ich es sehe. Es sah, dass ich es sah. Schaute durch das trübe Salzwasser der Wiener-Würste im Sonderangebot, drückte seine grossen, schwarzen Augen nahe ans Glas. Vergrösserte sie drei Mal, wollte sie zwanzig Mal vergrössern. Bis sie alles andere dominieren würden. Verdrehte sie. Ich wich zurück, das Glas kam auf mich zu. Schritt für Schritt. Bis zum Rande des Regals. Es taumelte. Balancierte ein-, zwei-, dreimal vor. Und wieder zurück. Wie in Zeitlupe fiel es, drehte sich während des Fallens, rund und satt, fiel in meinen Einkaufswagen. Scheppernd kam es auf dem Gitter zu liegen. Fuhr mit mir mit. Ich schob es durch die Regale, durch die Gänge. Wie unter Zwang. Wollte es loswerden. Lief immer schneller, stiess den Wagen vor mir, von mir. Überholte andere Leute, stiess andere Leute, niemand verstand. Als ich den Wagen endlich stehen liess, als ich endlich davonschlich, rückwärts nach hinten, da kam das Kind mit. Natürlich. Das Glas rollte vor meine Füsse, das Auge drehte sich im Kreis und die Würste bogen sich vor Lachen.
Mal war es nicht da. Da war ich glücklich. Glaubte, ich vermisste es nicht. Glaubte, ich war normal. Es war normal. Ich lief durch die Strassen, fuhr durch die Strassen, lief durchs Einkaufszentrum, durch den Supermarkt. Es war nicht da. Ich lief und fuhr weiter. Konnte mein Glück kaum fassen. Das dauerte ewig, fühlte sich kurz an. Die Leute schauten nicht, sie lachten nicht, und wenn sie lachten, meinten sie nicht mich.
Dann war es wieder da. Plötzlich, ohne sich anzumelden. Ich hatte Wein getrunken, ich hatte mit Freunden gesprochen, oder mit Leuten, die sich Freunde nannten. Die ich Freunde nannte. Ging ins Zimmer, ging ins Bett. Ohne Licht. Das Bett war weich wie immer. Das Kissen hart. Als ich mein Gesicht reinpresste, hörte ich es. Es lachte, kugelte sich vor Lachen unter dem weichen Kissen, das nun hart war und leicht bebte. Zitterte. Unter mir. Es war unter mir. Boxte mich ins Gesicht, stiess mich ins Gesicht. Streckte seine Wurstfinger aus, zeigte auf mich, brabbelte und lachte. Es lachte immer. Es riss seine Augen weit auf, fixierte mich. Es sagte nicht, es sei wieder da. Es musste es auch nicht sagen, ich wusste es. Ich presste meine Augen fest zu. Dachte, es würde verschwinden, vielleicht, vielleicht wars nur der Wein. Vielleicht wäre es morgen wieder verschwunden. Das war es nicht. Es war wieder da. Und nun liess es mich nicht mehr los.
Es schlief unter meiner Bettdecke, sass bei mir auf dem Beifahrersitz, besetzte den Kinosessel neben mir, ass meinen Salat im Restaurant. Nie war es still, nie war es anständig. Die spitzen Zähne, die Zacken, ausgefahren, hackten sich in den Salat. Zack, zack, zack. Mampfend ass es, spritzend. Lachte, wenn ich mich entsetzte, lachte lauter, wenn ich den Tisch wechselte. Folgte mir, setzte sich auf meinen Schoss, wippte auf und ab. Gluckste, wieherte. Ich schüttelte es angewidert ab, sprang auf, stiess den Stuhl um, riss ein Glas mit. Es zersprang scheppernd, und das Kind hüpfte auf den Scherben herum. Im Gleichschritt, es murmelte einen Abzählvers und zeigte unablässig auf mich. Seine Wurstfinger tanzten vor meinem Gesicht auf und ab. Du, du, du, sagte es. Barfuss war es, die Scherben gruben sich in sein Fleisch, Blut spritzte. Ich schrie. Die Leute um mich herum schauten angewidert, lachten, sie lachten hinter vorgehaltener Hand. Rückten ab, schauten weg. Schauten wieder hin. Der Kellner kam, er sagte, ich würde besser gehen. Das Kind fuchtelte hinter seinem Rücken mit einer Gabel herum, zeigte damit auf mich, grinste, setzte an zum Wurf. Ich rannte, rannte weg, hinaus, der Kellner schloss die Tür hinter mir.
Ich war auf der Strasse. Rannte, wollte das Kind abhängen. Wollte es nie wieder sehen. Setzte mich auf eine Parkbank, neben einen alten Mann. Er las die Zeitung. Eine Boulevardzeitung, die farbigen Bilder sprangen mir ins Auge, sprangen aus dem Bild, jetzt. Das Kind, es war wieder da. Eben noch war es im Restaurant, in der Zeitung, jetzt war es hier. Tanzte auf der Zeitung des Mannes. Einen Hexentanz. Ich riss daran, schlug auf die Zeitung ein. Das Kind musste verschwinden. Der Mann sass da, als würde nicht ein Kind auf seiner Zeitung tanzen. Ein hässliches Kind. Ich riss an der Zeitung, das Kind war immer noch da. Grinste hämisch. Der Mann sagte, Spinnerin. Ich sagte, das Kind, es tanzt auf Ihrer Zeitung. Er sagte, wo, meine Zeitung, Sie haben sie zerrissen, kaufen Sie mir eine neue. Das Kind zerrte an seinen Haaren, die schön zur Seite gescheitelt waren, um den Ansatz der Glatze zu verdecken. Schön waren sie frisiert gewesen. Nun waren sie verwuselt, standen schräg vom Kopf ab, die ganze Arbeit für nichts. Ich schlug in Richtung des Kindes, traf die Glatze des Mannes. Der schrie, stand auf, schrie mich an. Ich verstand nicht, was er wollte. Das Kind! Es lachte. Das Kind! Er glaubte mir nicht, sagte, Spinnerin, noch einmal. Sagte, dass sie so jemanden frei herumlaufen lassen. Sagte, er hole die Polizei oder den Notfallwagen. Das Kind war in den Park gerannt und stampfte auf einem Vogelnest herum, das vom Baum gefallen war. Oder das es vom Baum geholt hatte. Einerlei für das Kind. Ich stand da. Der Mann fuchtelte mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum, schrie mich an. Ich verstand nichts mehr. Ich drehte mich um, lief davon. Dem Ende der Welt zu, einfach weg. Um die Ecke laufen und verschwinden. Niemals wieder hierher kommen, niemals wieder Menschen sehen, kein Kind mehr. Vor allem.

Zu Beginn unserer ersten Begegnung war das Kind noch braver, niedlich fast. Es versteckte sich hinter den Schultern seiner Mutter, der Vater stand daneben. Sie waren meine Freunde. Das Kind war neu. Sie sagten, sie hätten es zur Pflege aufgenommen. Sie sagten, es sei schüchtern, habe ein wenig Lernschwierigkeiten, sei aber lieb. Sie sagten, es esse viel und gerne. Vor allem Würste. Da kriege es gar nicht genug. Sie sagten, sie seien glücklich. Alle drei.
Wir assen zusammen. Wir assen Grillwürste. Fette Grillwürste. Das Kind stach mit seiner Gabel gierig in die Würste, hob die ganze Wurst in die Luft. Biss ab, ohne auch nur abzuschneiden. Es mag Würste so sehr, sagten meine Freunde entschuldigend. Das Kind nickte und lachte. Die Freunde tätschelten ihm die Wange und sagten, es wird eine Spange brauchen. Die Zähne waren gelb und abstehend. Das kommt von der ungesunden Ernährung, sagte die neue Mutter. Es wurde bisher nicht verwöhnt, das Kind. Kriegte nur dünnes Zuckerwasser, altes weisses Toastbrot, nie Fleisch. Das Kind stach in eine neue Wurst. Malträtierte sie richtiggehend. Geiferte, machte den Mund auf, riss ein Stück ab, schluckte ohne zu kauen. Ich nickte ihm zu, es lachte mit vollem Mund. Wir sind so glücklich, sagten meine Freunde im Chor. Ich nickte. Wusste nicht, wohin schauen. Auf das Kind. Dort konnte ich nicht hinsehen, die Würste, es frass die Würste. Eine nach der anderen. Ich beschränkte mich auf den Salat. Auch den mochte ich nicht mehr richtig. Als ich ging, standen meine Freunde auf. Das Kind versteckte sich hinter den Schultern der Mutter. Nur seine grossen schwarzen Augen blitzten hervor. Wir sind so glücklich, sagten sie.
Seither assen wir immer Würste, wenn ich sie besuchte. Es geschah immer seltener. Ich wusste nie, wohin ich schauen sollte, ich wusste nie, was ich sagen sollte, ich konnte nie so oft nicken und lächeln, wie es nötig gewesen wäre. Und ich mochte Würste nicht. Nicht mehr. Was ist, magst du uns nicht mehr, fragten meine Freunde. Ich sagte, das ist es nicht. Ich habe wenig Zeit.
Ich mochte das Kind nicht. Es verdarb mir den Appetit. Es schmatzte laut, es ass ohne Manieren. Es war zügellos.
Mit der Zeit hasste ich es, das Kind. Meine Freunde fragten, bist du eifersüchtig. Ich sagte, nein. Das ist es nicht. Ich hasse Würste. Dann iss doch Salat und komm trotzdem, sagten sie.
Mit der Zeit ging ich nicht mehr hin. Alles war friedlich ohne das Kind. Ich verwünschte das Kind. Es war der Keil, der sich zwischen meine Freunde und mich gebohrt hatte. Grob und ohne Rücksicht. Es hatte mir den Appetit verdorben. Ich stellte mir vor, wie ich dem Kind die Würste in den Mund stopfen würde, eine nach der anderen, bis nichts mehr rein ginge. Dicke, fette Bratwürste. Bis es mit weit aufgerissenem Maul und noch grösseren Augen nur noch staunend dasitzen könnte. Und dann würde ich mit der Gabel weitere Würste reinstopfen, ins Maul, in die Nasenlöcher, in die Ohren. Wenn sie nicht reinpassten, würde ich mit der Gabel nachhaken, bis sie passen würden. Bis das Kind endlich genug Würste hätte. Genug für immer. Aber dann würde ich wieder von vorne beginnen.
Ja, natürlich, ich wusste, dass das Kind kein leichtes Los gehabt hatte, dass es das Paradies für dieses kleine Monster sein musste, nun so viele Würste essen zu können, wie es wollte. Dass es nur ein unschuldiges kleines Kind war. Aber ein verdammter Vielfrass.
Ich sah das Kind bei gemeinsamen Freunden wieder. Auch sie hatten Würste für uns gebraten. Für das Kind. Weil das Kind sie so mag, sagten sie. Ich lächelte. Nickte. Das Kind mampfte. Ohne Unterlass. Es mochte sie immer noch. Ich hielt es kaum mehr aus. Böse Fantasien stiegen in mir hoch. Ich lächelte. Willst du nicht draussen spielen gehen, es gibt eine Schaukel, ein Springseil, ein Fahrrad, sagte ich.
Es ging raus. Ich ass ein wenig vom Salat. Die Würste tropften fettig von der Grillplatte aufs weisse Tischtuch. Viele Würste warteten noch auf das Kind. Doch das war weg. Wie lange es ging, weiss ich nicht. Irgendwann gab es einen furchtbaren Laut von draussen, ein Schleifgeräusch, einen Schrei. Und dann Stille. Die neuen Eltern, meine anderen Freunde, alle rannten nach draussen. Ich auch. Vor dem Haus blieben wir stehen. Da war er. Der Lieferwagen. Direkt vor dem Haus, neben dem offenen Gartentörchen. Er stand schräg auf der Strasse, der Fahrer war jetzt rausgesprungen. Lief entsetzt vor seinen Wagen. Unter dem Fahrzeug lag etwas. Die neue Mutter schrie, rannte hin. Die anderen Leute schrieen. Alle schrieen wild durcheinander. Alle rannten hin. Es war das Kind. Es lag dort, blutete aus der Nase, blutete aus dem Mund. Die Augen starrten mich immer noch gross und schwarz an. Und eine Delle war quer über seinen Bauch zu sehen, dort wo die noch unverdauten Würste lagen.

Nun ist es hier, in meiner Kantine. Meinem Esssaal, der mir täglich fremd ist. Es ist nicht meiner. Und es gibt keinen Ausgang. Keinen Ausweg, ich renne im Kreis. Sie sind doch schneller gewesen. Sie haben mich doch gekriegt. Mühelos, ich bin nicht so zäh. Es tut weh.
Ein Stich nur, ein kleiner, hat die Frau im weissen Kleid gesagt, dann wird es mir besser gehen. Dann wird das Kind nicht mehr schreien. Es wird ruhig werden. Alles wird ruhig und friedlich sein. Und es wird nicht mehr wehtun. Nein, es wird nicht mehr wehtun, das hat sie doch gesagt.