Niklaus Epp

2013

Pierre befreit Pierre *

von Niklaus Epp

Dunst schleicht von der Notre Dame die Seine herauf. Ich lehne mich über die Brückenmauer des Pont de la Tournelle, spucke hinunter auf die Strömung, frage mich, wie lange es dauert, bis meine Spucke das Meer erreicht.
Ein Fluch reisst mich aus meinem Sinnen. Ich richte mich auf. Der Urheber des Fluches steht vor der Statue am Anfang der Brücke. Mit geballter Faust, schreit er hinauf zur steinernen Frau mit Kind auf dem Sockel. Er lästert über uns Frauen. Ich gebe vor, ihn nicht zu sehen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn.
Ich kenne ihn gut.
Im Dreck am Strassenrand vor der Kirche beim Place D’Alésia sitzt er fast jeden Morgen und streckt den Passanten einen Plastikbecher entgegen.
„J’ai faim“, hat er auf einen Zettel geschrieben.
Heute bettelt er nicht. Heute ist der Durst stärker als der Hunger.
Das Lästern hört auf. Er zieht eine Weinflasche aus der Jackentasche, entkorkt sie mit den Zähnen, spuckt den Zapfen auf die Fahrbahn, prostet zum Himmel, setzt die Flasche an die Lippen.
„An den Galgen mit den Weibern!“
Er torkelt, glotzt auf den Korkzapfen zwischen den vorbeiflitzenden Autoreifen auf der Fahrbahn, fällt beinahe vornüber.
„Ignorieren!“, flüstere ich.
Unter mir zieht ein Lastkahn, beladen mit Steinkohle, den Fluss hinauf. Nächstens fallen die ersten Regentropfen. Ich ziehe den Kopf ein. Das Fluchen trifft mich in den Rücken, die Worte prallen wie Steine auf meinen Körper. Für ihn bin ich Dreck.
Damals, als wir uns entschlossen, gemeinsam die Universität zu verlassen, der Welt den Hintern zu zeigen, da war alles anders.
„Paris zur Stadt der Philosophen machen“, sagte Pierre.
Wir warfen die Bücher in die Seine, pennten von nun an zusammen auf dem Pflaster am Ufer. Anfangs belächelten uns die echten Clochards. Dann wurden wir ihnen mit jedem Tag ähnlicher. Wir fingen an zu trinken. Pierre mehr als ich.
„Pierre befreit Pierre“, erklärte er, als er sich immer häufiger betrank.
Nun steht er hinter mir, ein Sklave der Flasche.
Sein Fluchen wird zum Murmeln. Meine Hände stützen sich auf das Brückengeländer, die Nägel krallen in Stein. Er könnte mir die Flasche über den Kopf schlagen, niemand würde es bemerken.
Er schwankt ein paar Schritte rechts von mir zur Mauer. Pierre ist kräftig, trägt zu kurze Haare für einen Clochard. Sein rechtes Hosenbein ist heruntergerissen. Er nimmt einen Schluck, schaut wie ich über die Seine zur Notre Dame.
Wind kommt auf, streicht Kühle in mein Gesicht. Zwei Tauben setzen sich auf die Mauer, umkreisen sich mit nickenden Köpfen. Er scheint die balzenden Vögel nicht wahrzunehmen, setzt die Flasche an die Lippen, rülpst. Die Flasche ist halb leer. Er schaut auf das Etikett. Zittern erfasst mich. Mit der Flasche in der Hand holt er aus.
„Hipparchia!“, schreit er.
Meine Hände schnellen vor meinen Kopf. Die beiden Tauben scheuchen auf. Die Flasche blitzt im Flug vor meinem Gesicht, zerschellt zwei Meter weiter am Brückenpfeiler. Der Wurf galt nicht mir. Getroffen hätte auf diese Distanz auch ein Besoffener.
Er dreht sich von der Mauer weg, geht in Richtung Île Saint-Louis. Mit dem rechten Schuh tritt er auf das Hosenbein. Auf der Brückenmitte dreht er sich um, fuchtelt mit den Händen, springt in die Luft. Er tanzt, droht mit der Faust gegen den Himmel. Die Jacke offen, taumelt er vorwärts, streckt die Arme wie Flügel aus, als wollte er fliegen.
Da sehe ich einen Geldschein. Er wirbelt auf dem Gehsteig im Kreis, da wo Pierre eben noch seine Flüche dem Himmel entgegen geworfen hat. Er muss ihm aus der Jackentasche gefallen sein.
„Pierre!“, rufe ich, renne, bücke mich nach dem Schein. Der Wind ist schneller. Zwanzig Euro schlagen Kapriolen in der Luft.
„Warte!“
Er reagiert nicht, wankt weiter.
Der Geldschein landet auf der Fahrbahn. Quietschen und hupen. Ich mache einen Schritt nach vorn, erwische den Schein zwischen Schuhsohle und Asphalt. Scheinwerfer starren mich an. Der Fahrer hinter der Scheibe tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Ich gehe zum Geländer.
Ich könnte ihm nachrennen. Stattdessen schaue ich zu, wie er schwankend zwischen den Häusern verschwindet.
Den Geldschein glätte ich auf der Mauer, falte ihn zusammen, stecke ihn ins Portemonnaie. Ein Regentropfen schlägt auf das abgescheuerte Leder. Dunkelgraue Tupfen breiten sich auf dem Asphalt aus. Es riecht nach Teer.
Jemand tippt mir von hinten an die Schulter. Ich zucke zusammen, drehe mich um. Ein älterer Herr steht vor mir. Rosa Gesicht, spärliches Haar, in der Hand eine Hundeleine. Kugelaugen glotzen mich durch dicke Brillengläser an
„Madame“, sagt er. „Machen sie das immer so?“
„Wie?“, frage ich.
„Ich meine“, sagt der Herr, „das haben sie doch nicht nötig.“
Es reizt mich, dem Alten meine Hand in die Visage zu schlagen.
„Nicht nötig?“, zische ich ihm ins Gesicht.
Der Hund schnuppert an meinen Sandalen. Ich stupse ihn an die Schnauze. Herrchen und Hundeschnauze treten zurück.
„Klugscheisser!“, fauche ich.
Der Alte wird um einen Kopf kleiner, zupft an der Leine. Der Pudel rennt ein paar Schritte, Herrchen hält ihn zurück und humpelt ihm nach.
„Geh nach Haus!“, schreie ich. „Wasch dir deinen Stinkpudel und deinen Stinkschwanz und zieh das Pyjama an. Träum von deiner heilen Welt!“
Von der Notre Dame ist nur noch die Silhouette zu sehen. Weich, als wäre sie aus grauer Watte. Mir ist, als habe das Wasser der Seine aufgehört zu fliessen.
Ich stelle mir vor, die Touristen und mit ihnen die Klugscheisser dieser Stadt seien alle ersoffen. Im Nebel haben sie sich verirrt, sind einander nachgelaufen wie Schafe. Dem Leithammel folgend, sind sie in die Seine gestürzt. Vorne an der Spitze beim Pont Neuf. In Einerkolonne blökend ins Wasser hinaus gegangen. Untergetaucht, verschwunden.
Ich strecke meine Arme aus.
„Pierre!“, rufe ich. „Je t’aime!“
Der Regen wird stärker. Ich laufe über die Brücke, nehme den Weg am Quai d’Orléans entlang der Seine. Vorne beim Pont Saint-Louis flüchte ich mich vor dem prasselnden Regen ins Restaurant, setze mich an einen Tisch am Fenster.
Auf der Schiefertafel neben der Theke wird der Wein des Monats angepriesen. Jahre ist es her, seit ich zum letzten Mal hier war. Es war an dem Tag, als wir, wie Pierre es ausdrückte, die Universität beerdigten. Wir feierten mit Champagner.
Der Kellner steht vor mir.
Ich bestelle eine Flasche Touraine.
Der Kellner zögert, taxiert mich, kritzelt mit dem Bleistift auf einen Block. Im Wegdrehen schielt er auf meine abgetretenen Sandalen, geht und schlägt den Zettel mit der Bestellung auf die Theke.
Draussen zerspritzen die Regentropfen auf Asphalt und Autoblech, schlagen Minikrater in Pfützen. Die Frau hinter dem Glacéstand reibt sich die Hände, knüpft ihre Wolljacke zu. Die Häuser auf der Île de la Cité tarnen sich in Grau, die Notre Dame verschwindet.
Der Kellner stellt den Wein auf den Tisch. Er traut mir nicht. Das braucht er mir nicht zu sagen. Ich glätte den Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch.
Der Wein wärmt. Der Pegel in der Flasche sinkt. Die Wärme wird zu Melancholie, die Melancholie zu Schmerz.
Der Regen hat aufgehört. Der Touraine säuselt in meinem Körper. Ich entschliesse mich für den Weg durch die Rue Saint-Louis.
Er liegt auf dem Gehsteig vor der Fromagerie. Wie in letzter Zeit schon oft. Den einen Arm unter dem Kopf, den andern auf der Strasse. Passanten weichen dem Haufen Elend mit Kopfschütteln aus.
Ich bücke mich. Sein Brustkorb bewegt sich unter der durchnässten Jacke auf und ab.
„Pierre“, flüstere ich.
Er reagiert nicht.
Soll er doch schlafen.
Früher pennten wir oft zusammen unter der Brücke. ‚Hunde’, neckten uns die andern. Wir teilten uns gemeinsam einen Schlafsack. Nackt, wenn Pierre nicht besoffen war.
„Pierre ist ein Philosoph“, sagte mal einer.
„Krates“, lachte Pierre. „Ein Sokratiker, ein Jünger von dem, der im Fasse wohnte.“
Krates? Ein Säufer ist er! Im kommenden Winter wird er in der Kälte erfrieren.
„Pierre befreit Pierre“, flüstere ich und gehe.
Der Dunst wird dichter. Die Feuchte umarmt die Menschen, die Hunde, die Kähne auf dem Wasser.
Ich setzte mich auf die Mauer unten am Ende des Quai d’Orléans und wickle die billige Rotweinflasche, die ich für den Rest des Euroscheines beim Krämer erstanden habe, aus dem Zeitungspapier.
„Zwei Flaschen“, pflegt Pierre zu sagen, „zwei Flaschen hauen dich noch lange nicht unter den Tisch.“
Ich ziehe den Flaschenhals über die Mauerkante. Der Blechdeckel spickt weg. Ein junger Fischer, der mit einer überlangen Rute sein Glück versucht, lehnt es mit einem Lächeln ab, mit mir zu trinken. Er starrt hinaus auf das Wasser. Die Flasche an den Lippen, starre ich mit. Kein Zucken, kein Fisch an der Leine.
Ich stehe auf, spucke hinaus auf das Wasser. Die Flasche werfe ich der Spucke nach.
„Sollen sie doch alle ins Meer!“, zische ich.
Dichter Nebel umschlingt mich. Mir wird kalt.
„Pierre! Verfluchter Hund!“
Die Nacht werde ich hier im Windschatten der Mauer verbringen.


* „Krates befreit Krates“, sagte der griechische Philosoph Krates, als er sich von seinem Besitz „befreite“, um als Kyniker zu leben (die Kyniker – die Hunde). Hipparchia, seine Frau, stammte wie Krates aus wohlhabender Familie und tat es ihm gleich. Die beiden liebten sich, so die Überlieferung, nackt auf offener Strasse.