Patricia Büttiker (Petra Maier)

2008

Puzzle

von Patricia Büttiker

Frau Blaser schob den Stuhl zurück und nahm ihre braune Ledertasche. Sie stellte sie auf ihren Schoss, zog den Reissverschluss auf und griff hinein.
„Das ist für euch.“
Sie streckte das Geschenk zuerst mir, dann Hanna, dann wieder mir hin. Ich nahm es entgegen.
„Dafür packe ich es aus“, murmelte Hanna, während sie es zu sich schob. Sie zog die Masche auf und fingerte nachher am Knoten herum.
„Ich hole eine Schere“, sagte ich und stand auf.
Ich reichte Hanna die Schere, mit der Spitze nach innen.
„Geht schon.“
Sie zerrte das Band über die Ecken und Kanten. Ich schaute zum Blumenstrauss, den Frau Blaser mitgebracht und Theodora gereicht hatte mit den Worten: ‚Frisch gepflückt aus meinem Garten’. Die Gräser zitterten leicht. Draussen schien die Sonne. Hanna wischte das Band vom Tisch und schaute ihm nach, wie es zu Boden fiel. Sie fing an, mit den Fingernägeln die Klebstreifen abzukratzen.
„Geduld, junges Fräulein“, sagte Frau Blaser. „Nimm dir ein Beispiel an meinen Hühnern. Erst wenn das allerletzte Körnchen aufgepickt ist, streue ich ihnen frische Körner aus.“
Frau Blaser lachte, ihr herabhängender Hals wackelte dabei.
„Geht das langsam“, sagte Hanna und riss das Papier auf.
Zum Vorschein kam ein Puzzlespiel.
„Haben Sie vielen Dank, liebe Frau Blaser“, sagte ich, stand auf und gab ihr über den Tisch hinweg die Hand.
„Herzlichen Dank“, sagte Hanna, stand auf und gab ihr die Hand.
Wir gingen mit dem Puzzle ins Schlafzimmer.
„Ich hole einen Karton“, sagte ich.
Um den Karton zu holen musste ich durch die Küche. Theodora füllte gerade Kaffeepulver in den Kolben. „Kümmert euch bitte um Frau Blaser, bis ich den Kaffee fertig habe.“
Ohne etwas zu sagen öffnete ich die Tür zum Arbeitszimmer, ging hinein und nahm den Karton hinter dem Tisch hervor. Beim Hinausgehen zog ich die Tür leise hinter mir zu.
„Ihr könnt sie doch nicht allein lassen“, sagte Theodora.
„Was hast du gesagt?“
Ich ging aus der Küche.
Im Schlafzimmer legte ich den Karton auf den Boden. Hanna machte die Schachtel auf, nahm den Beutel heraus, riss ihn auf, leerte die Teile auf den Karton und breitete sie aus, bis kein Puzzlestück mehr auf dem anderen lag. Sie begann mit dem Himmel, ich mit der schneebedeckten Spitze des Berges.
„Sollen wir zählen?“ fragte ich Hanna später.
„Ja.“
Ich holte meinen Wecker vom Nachttisch, zog ihn auf, las auf meiner Armbanduhr 15:36, substrahierte von fünf zwei und drehte die Zeiger auf drei Uhr sechsunddreissig.
„Du musst noch die Weckzeit einstellen“, sagte Hanna.
Also stellte ich die Weckzeit ein. Dann stellte ich den Wecker auf den Boden, seine Beine versanken in den Haaren des Teppichs. Ich gab ein Zeichen zum Start. Nach einer Stunde klingelte der Wecker. Wir zählten. Hanna hatte sieben, ich vier.

Wir zählten, sooft wir am Puzzle arbeiteten. Meistens fand Hanna mehr Teile, die zusammenpassten.
„Es langweilt mich, du kannst alleine weitermachen“, sagte ich eines Tages zu ihr. „Das versteh ich nicht, du hast soeben gewonnen“. „Es langweilt mich trotzdem“.
Hanna kam rasch voran. Das Bild wuchs zu einer sonnenbeschienenen, herbstlichen Berglandschaft.
Eines Nachmittags, als ich von der Schule nach Hause kam, war Hanna sehr aufgeregt.
„Was hast du?“
„Zwei Teile fehlen, hast du sie gesehen?“
„Nein.“
Hanna verschwand in die Stube. Ich legte meine Schultasche ab und zog die Jacke aus. Ich hängte sie über einen Mantel an den Kleiderständer, worauf er umzukippen drohte. Ich fing ihn auf, stellte ihn wieder hin und hängte die Jacke an die andere Seite. Dann suchte ich Theodora. Sie war im Arbeitszimmer beim Bügeln von Unterhosen. Unterhosen bügeln fand ich unnütz. Alles, was darunter lag, musste man nicht bügeln. Das sah man ja nicht.
„Hallo Theodora.“
Sie stellte das Bügeleisen hin. Dampf stieg hoch, es zischte.
„Hallo Klara, wie war es in der Schule?“
Sie faltete die Unterhose und legte sie zu den anderen Unterhosen. Sie nahm eine Hose aus der Zaine, stülpte sie um. Sie legte ein Bein aufs Brett und strich es glatt. Das andere hing herab.
„Und?“
„Im Rechnen hatte ich eine Fünfeinhalb, dafür bekam ich einen Elefanten ins Heft.“
„Hat der Elefant denn Platz im Heft?“ fragte Theodora lachend. Sie fuhr mit dem Bügeleisen auf dem Hosenbein hin und her. Das Wasser blubberte.
Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer. Ich suchte nach Hanna. Sie war immer noch in der Stube, wo sie mit einer Taschenlampe unter das Klavier leuchtete. „Da unten liegt ein Notenheft.“ „Kannst du es hervorholen?“ Sie langte unter das Klavier, zog das Heft hervor, stand auf, blies den Staub in meine Richtung und reichte es mir. Auf der Titelseite war ein Mädchen in orientalischer Kleidung abgebildet, das aus einem Zelt kam. Darüber stand SALOME. Den übermalten Namen des Komponisten konnte ich zuerst nicht lesen. Je länger ich jedoch schaute, umso besser konnte ich den Namen erkennen. Dieses Heft hatte ich nie vermisst. Ich musste niesen. Hanna ging zum Sofa, kniete nieder und zog die Schublade auf. Jetzt duftete es nach Mottenkugeln. Sie nahm die schwarze Zither heraus, die oben mit Blumen bemalt war. Hanna zupfte an den Saiten, die sich noch nicht gelöst hatten. Nachdem die Töne verklungen waren, schwenkte sie das Instrument hin und her und lauschte.
„Wie sollen sie denn da hinein gekommen sein?“ fragte ich, „du suchst an seltsamen Orten.“
Sie zuckte mit den Schultern, und als sie die Zither zurücklegte, gab diese einen Klang von sich, und als die Schublade wieder zu war, klang sie immer noch.
„Ich helfe dir suchen.“
Ich ging ins Schlafzimmer. Die fehlenden Stellen im Puzzle bemerkte ich sofort. Ich schob es beiseite um nachzuschauen, ob sie vielleicht darunter lagen.
„Aber leere den Filter bitte nicht in der Küche aus“, hörte ich Theodora rufen, „bring ihn auf die Terrasse.“
Kurz darauf hörte ich Hanna ächzen. Ich schaute nach. Sie schleppte den Staubsauger durch den Flur. Obwohl ich keine Lust dazu hatte, setzte ich meine Suche fort. Ich durchstöberte den Kleiderschrank, wühlte in Schubladen. Dann machte ich eine Pause und ging zum Fenster. Auf dem Platz fuhr ein rotes Auto in ein Parkfeld. Ich erkannte die Marke des Autos sofort. Es war ein Citröën CX Pallas. Die Tür ging auf und eine Frau stieg aus, mit einem Mantel über dem Arm. Sie öffnete die hintere Tür, worauf ein Kind beim Aussteigen die Tür noch weiter aufstiess, bis diese an die Plakatwand schlug. Auf dem Plakat war eine Frau mit toupiertem, schwarzem Haar abgebildet, die eine Zigarette zwischen den Fingern hielt. Um ihren Hals war ein Tuch mit schwarzen Punkten gebunden. Darunter stand MARY LONG. Die andere Frau untersuchte, ob die Tür beschädigt worden war. Anschliessend schlüpfte sie in den Mantel, knöpfte ihn zu, band den Gürtel und stellte den Kragen hoch. Dann machte sie eine Handbewegung zum Kind hin, das sich entfernt hatte. Sie streckte ihre Hand aus und wartete. Zusammen gingen sie Richtung Park.
Vor meinem Mund war die Fensterscheibe beschlagen. Zwischen dem Sommerfenster und dem Winterfenster lag eine tote Wespe. Ich zog die Vorhänge zu, trat einen Schritt zurück. Es dauerte ein Weilchen, bis sich die schweren Gobelinvorhänge nicht mehr bewegten. In regelmässigen Abständen waren darauf Vögel angeordnet, die auf den Ästen eines Baumes sassen. Einige Vögel sah man von vorn, andere seitlich. Die Vorhänge an den drei Fenstern waren zu kurz, sodass in der Nacht das Licht der Strassenlampen ins Zimmer fiel. Unsere Mutter hatte die Vorhänge genäht. Sie hatte sie nicht etwa zu kurz genäht, sie waren nur zu heiss gewaschen worden. Nachdem unsere Mutter verschwunden war, wurde die Wohnung gereinigt, die Vorhänge abgenommen und gewaschen. Die Vorhänge unseres Zimmers waren beim 60° Waschgang eingegangen.
Ich begann, den Saum des Vorhangs abzutasten. Beim dritten Saum spürte ich plötzlich etwas zwischen den Fingern. Mit Zeigefinger und Mittelfinger griff ich zwischen zwei Stichen in den Saum und klaubte die beiden Teile heraus. Ich ging aus dem Zimmer, lief durch den Flur, bog in den Korridor ein und trat auf die Terrasse. Hanna kauerte auf dem Boden, Staub auf die Schaufel kehrend. Um sie verstreut waren Staubballen, Staubsauger, der aufgerissene Filter. Sie schaute auf. Ich streckte ihr die beiden Teile hin. Sie stand auf, nahm sie mir aus der Hand, umschloss sie.
„Sie waren in unserem Zimmer, im Saum des Vorhangs.“
„Dort?“ fragte sie ungläubig.
Sie sprang auf, hüpfte in die Wohnung, eilte durch den Korridor, bog in den Flur ein, „ich hab sie!“ rief sie Theodora zu, „Gut!“ Sie rannte ins Schlafzimmer und fügte die Teile ein.
Das Bild wurde später mit einer Plastikfolie überzogen und in einem roten Rahmen über der Kühltruhe aufgehängt.