Urs Mannhart

2004

Hürlenen

von Urs Mannhart

Erster Entwurf zum Beginn einer sehr langen Erzählung


Hürlenen, jenes Dorf, oder die paar Häuser, die versuchen, ein Dorf zu machen, liegt in der alpinen Welt des Vertikalen wie auserwählt auf einer fussballfeldgrossen Hochebene. In drei Berner Oberländer Himmelsrichtungen fallen steingraue Felswände schroff von der Hochebene ab, und lassen vom Hürlenibach in der Hürlenischlucht nur ein fernes Tosen und Schäumen übrig, das für den, der unten steht, bedrängt von Felsriesen und über sich nicht mehr als eine Handvoll Himmel, als durchdringendes Donnern in den Ohren liegt; ein Donnern, das die Vorstellung von Steinschlag, Erdrutsch und Lawinen, von allem, was hier ungefragt und an allen Schutzvorrichtungen vorbei in die Schlucht nieder fährt, lebendig hält.
In der vierten Himmelsrichtung erhebt sich die Hürlener Hochebene allmählich zu der von sumpfigen Abschnitten durchsetzten Hürlenialp, steigt immer steiler und unwirtlicher gegen die Zunge des wachsenden Hürlenigletschers vor und überträgt schliesslich Macht und Ausstrahlung der hier unbesiegbaren Vertikalen, indem sie sich zum Gipfel des Hürlenihorns hochschwingt, einem kaum bestiegenen Zweitausender im mittleren Simmental.
Allerdings muss strittig bleiben, ob Hürlenen überhaupt dem Simmental zugerechnet werden kann. Die auf dieser Ebene zusammengerafften Behausungen und Schuppen liegen nämlich in einem unvergleichlich schwer erreichbaren Seitental eines Seitentals des Simmentals, zwischen Boltigen und Zweisimmen, und auch der Ausdruck "Seitental" klingt zu prominent, lässt Breiteres und Längeres erwarten, als es Hürlenen bietet, und der Taleingang zu diesem Hürlenital liegt derart verborgen, derart eng und derart unscheinbar in der Landschaft, dass es im Dorf heisst, dieser Flecken Land sei bei der Alpenfaltung erst vergessen und übergangen, ja überfaltet worden, und habe nachträglich, obschon kein Platz mehr war, zwischen bestehende Bergspitzen und Täler hineingezwängt werden müssen. Als General Henri Dufour Mitte 19. Jahrhundert mit Bleistift und Notizpapier durch die Schweiz zog, um diese in einem Kartenwerk von bisher ungekannter Genauigkeit fassbar zu machen, musste er den kaum bleistiftbreiten Taleingang nach Hürlenen übersehen haben. Denn von diesem Flecken Land fehlt auf der ersten Landeskarte jede Spur, und dass die paar Behausungen, der Hürlenibach mit dem Hürlenischuss, das Sumpfgebiet der Hürlenimöser, der Hürlenitungel, der Hürleniwald, die Hürlenialp, der Hürlenigletscher sowie das Hürlenihorn - dass all diese Namen auch heute noch auf keiner Karte eingetragen sind, ist einer jener in ihrer Anzahl gewiss unterschätzten Beweise, dass das Gerede von genauen Luftaufnahmen, auf denen die heutigen Landeskarten basierten, bloss eitler Tand und Mumpitz ist. Wahr ist vielmehr, und das kann jeder Hürlener bezeugen, dass seit der ersten, zwar lobenswerten, aber doch nicht lückenlosen Kartierung von Dufour bloss noch kopiert und gepinselt und neu schattiert und ausgebessert worden ist.
In Hürlenen erzählen die Dorfältesten zwar die Geschichte eines Kartographen, der vor noch nicht allzu langer Zeit vom Bundesamt für Landestopografie ausgesandt worden sei, das Hürlenital zu ergründen. Aber wie alle Geschichten, die von den Dorfältesten in Hürlenen erzählt werden, endet auch die Geschichte des Kartographen in der Hürlenischlucht. Den Taleingang, erzählen sie, den Taleingang hat er noch gefunden, aber in der zweiten, spätestens in der dritten Serpentine ist der Kartograph vom Weg abgekommen und in die Schlucht gestürzt.
In Hürlenen nehmen alle Geschichten einen natürlichen Ausgang: Er oder sie oder es ist oder sie sind in die Schlucht gestürzt. Und jeder, der es wissen will, bekommt erzählt, dass Gott die Erdanziehung in der Hürlenischlucht erfunden hat. Nirgends sei die Erdanziehung so heftig und unberechenbar wie in der Hürlenischlucht. Um zurück zum Kartographen zu kommen: Die Hürlener sind nicht beleidigt, in keinem Kartenwerk eingetragen zu sein. Im Gegenteil, es ist ihnen recht. Sie hätten nicht gewusst, was sich ihr kleines Dorf erfrechen sollte, den anderen Gemeinden den ohnehin eng bemessenen Raum auf der Karte streitig zu machen. Sie selber bedürfen keiner Karte, sie wissen ja, wo sie zuhause sind, und wer bloss auf die Dienste einer Karte hätte vertrauen wollen, um nach Hürlenen zu gelangen, um den wäre es ohnehin schlecht bestellt gewesen.
Denn was den Charakter dieses Dorfes noch vor seiner ausserordentlichen geographischer Lage und seiner kartographischen Absenz ausmacht, ist der nicht anders als haarsträubend zu nennende Verlauf der Strasse, über die es zu erreichen ist; ein übler, kaum in Stand zu haltender Karrweg, der das Dorf in einer Unzahl von Serpentinen und entlang schwindelerregender Abgründe mit der übrigen Welt verbindet. Unten, am unscheinbaren Taleingang, wo die von der Hürlener Wald- und Weggenossenschaft unterhaltene Privatstrasse ihren Anfang nimmt, steht nicht umsonst ein von Wind, Wetter und Unfällen zerrüttetes Gefahrenschild. Denn befahrbar, so wie das Wort im Unterland verstanden wird, ist die Strasse nie: Im Herbst, Winter und Frühling ist wegen Schneemassen und Lawinen kein Durchkommen, im Sommer können Gewitter, Erdrutsch und Steinschlag den Weg innert Sekunden verwüsten.
Die Strasse ist ungeeignet, jemanden ankommen zu lassen. In Hürlenen oben zu sein, das heisst allerlei, aber es heisst auch immer, die Strasse noch vor sich oder sie soeben hinter sich gebracht zu haben. Die Strasse gehört nicht zum Dorf, aber auch nicht zur Welt, mit der sie das Dorf verbindet.
Einer, der hin und wieder auf der Strasse anzutreffen ist, trägt den Namen Samuel Haudenschild. "Houdesämu", wie er genannt wird, ist im Dorf dafür besorgt, die Milch, die nicht getrunken wird, zu Käse zu verarbeiten. Haudenschild ist nicht nur Käsermeister, sondern auch, zusammen mit Hilfskäser Jakob Zurbrügg - Besitzer des einzigen Hotels in Hürlenen. Gäste sind rar. Die einzige Übernachtung in den letzten drei Jahren ist einem verirrten Wanderer mit verstauchtem Knöchel zu verdanken.
Dass die Ruhe, mit der sich das Leben im Dorf hinzieht, jemals einer Veränderung unterworfen sein könnte, dämmert Samuel Haudenschild erst allmählich, und erst in jenen Wochen, als nicht nur einige Jüngere im Dorf, sondern auch eine Mehrheit der drei Mitglieder des Gemeiderates laut darüber nachdenken, die Strasse zu renovieren. Progressive Kreise im Hürlenital, ja, solche Kreise gibt es, auch wenn sie nicht mit anderen progressiven Kreisen verglichen werden sollten, machen sich stark für einen Anschluss Hürlenens ans öffentliche Verkehrsnetz.
Die Sehnsucht ist maisgelb und heisst Postauto.
Die von Sägerei-Inhaber und Gemeindepräsident Peter Schlüechter, "Sagipesche" genannt, unverbindlich angefragte Direktion der Schweizerischen Postautobetriebe reagiert skeptisch. Sagipesche bekundet Mühe mit den Vorbehalten, mit dem abwimmelnden Ton, den er in der Stimme des Vizedirektors, den er am Draht hat, herauszuhören glaubt. Vielleicht hätte er doch nicht so offen sagen sollen, es sei sinnlos, auf der Karte nach Hürlenen zu suchen.
Immerhin nimmt sich der Vizedirektor Zeit, Sagipesche klar zu machen, dass aufgrund der geschilderten Strassensituation Hürlenens nicht an einen fahrplanmässigen Betrieb eines Postautos zu denken sei. Ein Postauto sei kein allradbetriebenes, kriechgängiges Landwirtschaftsfahrzeug. Ein Postautokurs sei nur denkbar, wenn die alte Strasse durch eine neue ersetzt werde. Durch eine, die den übelsten Abhängen und Felsschründen ausweiche, indem sie in einem Tunnel verlaufe.
Dieses von einem entnervten Vizedirektor der Schweizerischen Postautobetrieben barsch ausgesprochene Wort, dieses "Tunnel", setzte sich im Gehörgang des Gemeindepräsidenten fest.