Karl-Gustav Ruch

2003

Heimat.02

von Karl-Gustav Ruch

Etwa 20 Minuten, sagt die Hostesse vor der Warteschlange, höchstens 30 Minuten Wartezeit bis zur Überfahrt zum Monolith im Murtensee. Vor mir ein Menschenhaufen in einem Gewirr aus Geländerstangen. Endlich erblicke ich den Schluss der Warteschlange. Er wird gebildet von einem Mann mit geschultertem Kind.
"¿Adónde, Rudi?" höre ich hinter meinem Rücken. Dort steht ein älterer Mann in geblümtem, am dicken Bauch zusammengeknotetem Hemd mit Goldketteli an der weissbehaarten Brust, mit junger dunkelhäutiger Frau im Arm und dunkelhäutigem 7-jährigem Sohn an der Hand. - "¿Dónde se hace cola, Rudi?" fragt die Frau. - "I glob, dai une, amor." Der Mann zeigt mit seinem goldbereiften Arm Richtung Anlegestelle und tätschelt die Frau auf den Hintern. Sie gehen in die falsche Richtung und geraten in eine Sackgasse. - "Rudi, por aquí no …!" - "Da isch jetzt aber au no", meint Ruedi.
Ich zickzacke durch das Stangenlabyrinth; mein Ziel, der Mann mit geschultertem Kind, zieht bald links, bald rechts an mir vorbei.
Auf der rechten Gegengeraden kommt mir ein welsches Paar entgegen. Ich bin ihnen vor ein paar Minuten in der "Heimatfabrik" begegnet. - "Mais Heimat, ce n'est pas patrie", sagt der Mann. - "Heimat, c'est quoi?" fragt seine Partnerin.
Jetzt passieren Ruedi und Amor mit Kind: "Ves Rudi, por aquí." - "Da isch ja schlimmer als vor em Poschtschalter z'Santo Domingo", meint Ruedi.
Als ich bei meinem Vordermann ankomme, ist der Junge aus dem Schultersitz in die Hucke abgerutscht. - "I wot hei!" Der Knirps beginnt zu jammern. Vor ihm kniet seine Mutter am Boden und wühlt in einem Rucksack. Sie holt einen Brotlaib hervor, stützt ihn auf den Rucksack und schneidet mit einem dicken Armee-Sackmesser Scheiben.
Die Reihe steht.
Eben kommt mir zur Rechten ein schwarzer Turban entgegen, dahinter eine in einen purpurnen Sari gehüllte Frau. - "Switzerland has more lakes than India", erklärt die halbwüchsige Tochter neben ihr und zeigt auf den See hinaus. - "That is not true." Das sagt ihr kleiner Bruder, der jetzt hinter den farbigen Tüchern der Frau hervorguckt.
Jemand hat sich in meinen Rücken gestellt. Ich drehe mich und sehe mich im gepuderten Gesicht einer älteren Dame um. Sie verzieht ihren krausen Mund und hüstelt. Ich bin ihr mit meinem Blick zu nahe getreten, sie wendet sich ab, schützt sich mit ihrem bläulich nachgetönten Weisschopf und macht einen Schritt rückwärts.
"Patrie c'est Vaterland", höre ich jetzt links von mir. - "Mais Heimat, c'est quoi?" insistiert die Partnerin.
Hinter der gepuderten Dame haben sich jetzt auch Ruedi und Begleitung in die Reihe gestellt. Ruedi tätschelt die Frau und dann das Kind.
"Nachher müemer unbedingt i di Blind Chue, das seg ugeil, hät de Röbi gseit", meint ein Piercing behängter Mund zu einer beringten Nase nebenan. - "Het i nöd dänkt, dass die Schlappschwänz z'Bern no so öppis Krasses uf Bei stelled." Im offenen Mund spielt die Zunge mit einem rostfreien Nagel.
Die Reihe steht.
Die Frau am Boden klaubt jetzt aus dem Rucksack Tuppers und stellt sie auf den Boden. Sie öffnet einen der Plastiktöpfe, streicht daraus mit dem Sackmesser Butter und schmiert sie auf die Brotscheiben. Vor der Familie tut sich eine Lücke auf.
"Heimat, ça ne se peut pas traduir", sagt jetzt die männliche Stimme hinter mir.
"I wot hei!" ruft der Kleine und beginnt wieder zu greinen.
Die Frau am Boden öffnet weitere Tuppers mit Salamischeiben, Landjägerrugeli, Cervelatschnitten, Rauchspeck, Aufschnitt und Käsescheiben und belegt damit die Brote.
Ich ziehe den Prospekt der "Heimatfabrik" aus der Jackentasche und blättere: "Über die Produktion von Heimat … Heimat, was ist Heimat? Heimat sind die üppigen Wiesen, die Obstbäume, die Wälder".
Die Dame hinter mir räuspert sich, seufzt und drängt wieder einen Schritt näher. Sie sitzt mir im Nacken. Ihr Veilchenparfüm sticht in der Nase. Ich drehe mich um, sie hüstelt nervös, schüttelt den Kopf und lispelt: "Also so öppis!"
"Heimat sind die Strassenkreuzung vor meinem Haus, das verkratzte Klingelschild, der Geruch nach Schmierseife im Treppenhaus, das Geräusch auf dem ausgetretenen Parkettboden. Heimat sind meine italienische Espressomaschine und die chinesische Vase …"
Die Frau am Boden legt die Brote auf eine Alufolie, verstaut die Tuppers im Rucksack, kramt neue Plastikbehälter hervor, öffnet die Deckel und legt sie auf eine ausgebreitete Papierserviette. Aus den am Boden aufgereihten Tuppers holt sie mit einer Plastikgabel Tomaten und Essiggürkchen.
"Heimat ist eigentlich fast alles, was uns vertraut ist."
"Heimweh, c'est le mal du pays", doziert der Welsche jetzt hinter mir. "Mais ce n'est pas nostalgie?" fragt sein Begleiterin.
Wir warten.
"I wot hei!" schreit der Kleine.
"Wie das Bild in einem Kaleidoskop verändert sich das Bild von Heimat je nachdem, wie wir es betrachten, und je genauer wir es zu beschreiben versuchen, desto unfassbarer wird das Bild."
Die gepuderte Dame in meinem Nacken rückt weiter auf. Ich höre ungeduldiges Schnauben und Räuspern an meinem Ohr.
Auf der Gegenspur humpelt jetzt an einem Spazierstock ein älterer Mann mit aufgestecktem Schweizer Fähnchen auf dem Käppi vorbei. Den habe ich bereits in der "Heimatfabrik" gesehen. - "Chöit ir mir das erkläre?" hatte er eine Hostesse gefragt und zeigte mit seinem Stock in die Installation aus Schläuchen, Schnüren, Kabeln, farbigen Harnstoffkristallen, sich entleerenden Spritzkannen, sich aufpumpenden Gummihandschuhen und wuchernden Schlingpflanzen und Kakteen. - "Aber gern", gab die Hostesse zurück und erzählte was von Wirtschaft, Politik, Volk, Verfilzung, Verflechtung, Korruption und Synergien. - "Ja sooo", meinte der Mann, als die Hostesse geendet hatte und suchte stockschwingend den Ausgang.
"Heimat ist ein Gefühl - und die Dinge, die dieses Gefühl entstehen lassen, scheinen willkürlich, zufällig, veränderlich und individuell."
Die Reihe steht.
Die Frau am Boden schneidet auf einem kleinen Holzbrett Tomaten, teilt die Essiggürkchen und beschichtet damit die Brote. Dann beginnt sie wieder im Rucksack zu wühlen.
"Salami!" ruft der Knirps hinter ihr.
"… Und doch, Heimat ist."
Die Lücke vor der Tupperfamilie vergrössert sich.
Meine Hinternachbarin tritt von einem Bein aufs andere, stöhnt und bläst mir ihren parfümierten Atem in den Nacken.
Links von mir strömt wieder der Turban vorbei. - "Look the sailing boats!" ruft die dazugehörige Tochter. "Isn´t it nice?" - "India has mor lakes than Switzerland!" ruft der kleine Bruder.
Ruedi streckt seinen Kopf an der Dame hinter mir vorbei: "Wa isch au da los?" fragt er. - "¿Qué pasa, Rudi, porqué no se mueven?" - "I weiss au nöd, da hockt glob öpper am Bode."
Die Lücke ist auf über 10 Meter gewachsen.
Die Frau am Boden verstaut ihre Utensilien im Rucksack.
"Salami!"ruft der Knirps.
Endlich, denke ich.
Aber jetzt holt die Frau aus einem Aussenfach des Rucksacks eine Tube Mayonnaise und beschmiert damit die Brote, dann holt sie aus einem anderen Fach einen Salzstreuer, eine Dose mit Gewürzmischung und bestreut damit die Mayonnaise.
Ein aufgeblasener Kaugummi wackelt auf der Gegenspur auf mich zu. Als der Ballon platzt, zieht der Mund die Gummireste in den Schlund und meint: "D'Züri gits en geile Spunte, da muesch im Dunkle ässe win' än Blinde." - "Waisch wie krass, de Röbi isch a scho det gsi", meint die genagelte Zunge nebenan.
Die Frau am Boden hat die Brote in Servietten eingepackt, steht auf und reicht die Brote an die Familienmitglieder.
"Salami!", ruft der Knirps.
Endlich, es geht wieder voran. Die Lücke schliesst sich.
"Puhh", stöhnt die Duftwolke hinter mir.
"Isch aber au Zit gsi", hept Ruedi weiter hinten.
Bei der nächsten Wende sehe ich die Tupperfamilie für einen Moment von vorn: drei mampfende Münder, in die Käse-, Aufschnitt- und Salamibrote gesteckt werden.
Wir nähern uns der Anlegestelle. Der Pferch verbreitet sich. Die Ordnung der Reihe lockert sich und es ist nicht mehr ersichtlich, wer hinter wem zu stehen hat. Ich beginne den gewonnen Raum zu nützen und stehe bald etwas mehr links, dränge mich dann rechts vor und lasse mich wieder zurückfallen. Nach einiger Zeit merke ich, dass ich meinen parfümierten Schatten mitgezogen habe.
Etwas weiter vorn sehe ich den Berner mit dem Schweizerfähnchen auf dem Käppi in der Menschentraube, die sich vor dem Einstieg in das Boot gebildet hat. Nun löst er sich aus dem Haufen.
Es schnaubt an meinem Ohr. In ihrer Verzweiflung um die verlorene Ordnung hält sich mein Schatten hartnäckig an meinen Rücken. Ich drehe mich um, sie wendet mir ihren Haarschopf zu, ich mache einen Schritt nach links, sie macht einen Schritt nach links - sie ist nicht abzuschütteln, die gute Frau.
Der Berner mit dem Schweizerfähnchen am Käppi überquert jetzt Stock voraus den Landungsplatz. Will der auch heim? Er nimmt Augenmass, zielt und platziert die Stockspitze auf einer Papierserviette, die dem kleinen Knirps entfallen ist, schiebt das Papierchen mit dem Stock zuerst an den Strassenrand, von hier dem Bord entlang zur nächsten Dole, dann presst er es durch einen Schlitz des Schachtdeckels und stösst zwei-, dreimal wütend nach. Er dreht sich um und zeigt mit seinem Stock vorwurfsvoll in die Menge.
"Fernweh, c'est quoi?" Das welsche Paar überholt mich und zieht meinen Schatten mit.
Die Schiffsglocke bimmelt.
"Das Boot ist voll!" ruft eine Hostesse mit welschem Akzent.