Olga Haasky

2008

Pour Elise

von Olga Haasky

Daniels Finger fliegen über die Klaviertasten. Er spielt Beethovens ‚Pour Elise’. Dann stock es, bricht ab und: alles auf Anfang.
Ich denke an meine Schwester. Sie hat es im gleichen Alter auch gespielt. Ein Jahr lang. Es war ihr Lieblingsstück - bis Mutter gesagt hat, dass Kathi schon drei Jahre Klavier spiele und enorm talentiert sei. Seither hat meine Schwester kein Klavier mehr angerührt.

Auch mein Bruder lernt ‚Pour Elise’. Er spielt es nur einen Monat. Dann überflügelt er alle und spielt sogar besser als Kathi.
Er sagt: „Man muss sich immer mit den Besten messen.“

Ich komme mit einem Aufsatz von der Schule. Meine Wangen glühen.
Stolz erzähle ich: „Ich durfte ihn vor der ganzen Klasse vorlesen.“
Meine Mutter sagt: „Die Kiki hat für ihre Mutter ein Gedicht geschrieben.“

Die Anderen, die Besseren: Immerzu – in allem – ohne Ausnahme. Sie haben die besseren Kinder, in den besseren Schulen. Die bringen die besseren Noten, finden die besseren Ausbildungsplätze, machen die besseren Abschlussprüfungen, haben die besseren Freunde, ergattern die besseren Jobs, verdienen besseres Geld und tragen die bessern Kleider. Sie schnappen die besseren Ehemänner mit noch mehr Geld und noch besseren Karrieren, wohnen in besseren Wohnungen an nobleren Wohnlagen, sitzen auf edleren Sofas, fahren die grösseren Autos, besitzen den reinrassigeren Hund, verkehren in wichtigeren Kreisen, verkehren überhaupt in Kreisen und machen die längeren Reisen in fernere Gegenden. Sie kriegen die begabteren Enkelkinder beziehungsweise, kriegen überhaupt Enkelkinder. Die sind in den besseren Schulen und bringen die besseren Noten, finden die besseren Ausbildungsplätze, machen die besseren … Überhaupt, die anderen führen das bessere Leben!
Ich denke, STOP! Das ist gar kein Gedicht.

Ich sage: „Kathis Eltern ziehen weg. Kathi kennt am neuen Ort niemanden.“
Meine Schwester sagt: „Geschieht ihr recht.“
Drei Tage später wird unsere Katze überfahren.

Der Bruder nimmt aus Jux Gesangsunterricht.
Pavel, der Gesangslehrer sagt: „Unglaublich! Er ist ein Tenor! Er trifft die hohen Töne einfach so.“

Ich komme vom Ballettunterricht nach Hause.
Ich sage: „Uii, hab ich Hunger. Was gibt es zum Abendessen?“
Meine Mutter sagt: „Salat aus dem Garten. Der ist gesund und macht schlank.“
Mir vergeht der Appetit.

Vater sagt: „Immer ist sie unzufrieden. Ich hole Zigaretten.“
Er bleibt beim Kiosk.
Ich frage: „Wo ist der Kiosk?“
Meine Schwester sagt, der Kiosk sei in der Stadt in der Wohnung seiner Sekretärin.
Mutter sagt: „Männer sind Schweine.“

Wir besuchen die Grossmutter. Der Bruder ist nicht dabei. Er sagt: „Ich muss üben – wegen den Besten.“
Der Tost und das Fleisch sind angebrannt.
Ich sage: „Das ist krebsfördernd.“
Grossmutter sagt: „Was spielt das für eine Rolle. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.“

Ich frage Louis, ob er mit ans Dorffest kommt.
Er sagt: „Das bringt nichts.“
Ich frage: „Ist es denn ein schlechtes Fest?“
Er sagt, es lohne nicht, mit mir an ein Fest zu gehen.
Ich denke, ich habe mir nie überlegt, ob ich es lohne. Mein Fehler.
Dann sagt er noch: „Ich will keine Freundin. Ich will ein Motorrad. Eine 800er BMW.“
Meine Mutter sagt: „Männer sind Schweine.“
Meine Schwester sagt: „Männer sind alle gleich.“
Ich spreche keinen mehr an.

Magda von nebenan heiratet und kriegt drei Kinder. Dann dreht sie durch.
Meine Schwester sagt: „Magdas Mutter hat Magda als Kind jeden Mittag ihr Lieblingsessen gekocht und ihr Freizeitkleider für nach der Schule aufs Bett gelegt. Ich habe sie immer beneidet.“
Ich sage: „War das Essen angebrannt?“
Mutter sagt: „Jetzt hat Magdas Mutter drei Enkel, die bei ihr wohnen. Glückliche Magdas Mutter.“
Ich sage: „Möchtest du, dass wir durchdrehen?

Meine Schwester weint, ihr Freund habe eine andere. Sie habe ihn mit ihr gesehen. Hand in Hand am Sonntagmorgen.
Mutter sagt: „Und das überrascht dich?“
Ich sage: „Du lohnst dich nicht. Du bist keine 800er BMW.“

Elias sagt: „Ich habe eine neue Arbeitsstelle und mir dafür die Haare schneiden lassen. Wie findest du den Haarschnitt?“
Ich sage: „Schön, steht dir gut. Und wie ist die neue Arbeit?“
Er sagt: „Eine Herausforderung. Dafür lade ich dich zum Abendessen ein.“
Ich sage: „Schön.“
Zwei Wochen später sagt er, er sei hin und her gerissen.
Ich sage: „Wegen der herausfordernden, neuen Arbeit und unserer Beziehung?“
Er sagt: „Es muss schwierig für dich sein.“
Ich weiss nicht, was sagen. Also sage ich nichts.
Meine Schwester sagt, die herausfordernde, neue Arbeit habe einen Coiffeursalon in der Stadt und ein Wochenendhaus auf dem Land.
Ich weiss nicht, was sagen. Also sage ich nichts.
Elias zieht zu seiner herausfordernden, neuen Arbeit ins Wochenendhaus.
Meine Schwester sagt: „Männer sind alle gleich.“
Meine Mutter sagt: „Trau keinem.“
Ab da schneide ich mir die Haare selbst.

Wir besuchen Mutter im Spital. Der Bruder ist nicht dabei. Er spielt im Ausland – mit den Besten.
Sie eröffnet uns, sie habe Leukämie. Meine Schwester weint. Ich weine nicht. Ich denke, einen normalen Krebs, hätte man herausschneiden können.
Mutter sagt: „Das Gift ist im Blut.“
Ich denke, das erstaunt mich nicht.
Wir sprechen ihr Mut zu, was man halt so tut: „Das wird schon wieder. Kopf hoch! Das kann man heute heilen.“
Ich denke, du hast keine Chance. Es ist im Kopf und dann erst im Blut.
Mutter sagt, sie habe, bevor sie ins Spital eingeliefert wurde, Magdas Kinder bei der Nachbarin gesehen.
Ich frage: „Hat sie ihnen ihr Lieblingsessen gekocht?
Meine Schwester sagt: „Magda war immer so perfekt.“
Ich denke, für Enkel durchdrehen lohnt sich nicht. Bald bist du tot, die Enkel kämen ins Heim und wir hätten den Salat. Das wäre nicht gesund. Ich sage: „Es kann jeden treffen.“
Meine Schwester sagt, der Bruder habe sich ein schweres Motorrad gekauft.
Ich frage: „Eine 800er BMW?“
Meine Schwester sagt, sie wisse es nicht.
Mutter sagt: „Was spielt denn das für eine Rolle.“
Die Krankenschwester serviert das Mittagessen um elf Uhr Vormittags. Es riecht nicht angebrannt. Es gibt einen gemischten Salat.
Meine Schwester sagt: „Salat. Das ist ja wie zu Hause.“
Ich sage: „Das ist gesund“, und verkneife mir „und macht schlank.“
Der Spitalaufzug führt uns hinab. Ich nehme meine Schwester in den Arm. Ich bin die jüngere. Es wäre ihre Aufgabe, mich zu trösten. Doch ich habe den Auftrag, die stärkere zu sein.
Meine Schwester flüstert: „Was sollen wir bloss tun?“
Ich sage, ich wisse es nicht, und ich meine es auch so.

Der Krebs ist stabil. Wir besuchen Grossmutter. Der Bruder ist nicht dabei – wegen den Besten, im Ausland. Es riecht angebrannt.
Grossmutter fragt: „Wo ist der Bruder?“
Ich sage, er spiele im Ausland – mit den Besten.
Grossmutter sagt: „Guter Junge.“
Meine Schwester sagt: „Das ist krebsfördernd.“
Meine Mutter sagt, der Arzt sage, sie solle das nicht essen.
Grossmutter sagt: „So schlimm wird es nicht sein.“

Meine Schwester heiratet doch noch einen. Aber erst nachdem er seine Katzen wegen ihr ins Heim bringt.
Ich sage: „Macht’s gut.“
Die Flitterwochen verbringen sie auf seinem Motorrad. Sie kriegt zwei Kinder und dreht nicht durch.
Ich sage: „Glückliche Schwester.“
Sie sagt, es sei zu gefährlich.
Ich sage: „Die Liebe oder das Motorrad?“
Sie sagt: „Beides.“
Er verkauft sein Motorrad. Dann geht die Liebe in die Brüche. Sie trennen sich freundschaftlich.
Er kauft sein Motorrad zum doppelten Preis zurück.
Meine Schwester sagt: „Geschieht ihm recht.“
Ich sage: „Es muss eine 800er BMW gewesen sein.“
Er sagt: „Wir bleiben Freunde.“
Meine Schwester sagt: „Nicht genug.“
Ich frage: „Holst du die Katzen auch zurück?“
Er sagt: „Lohnt sich nicht. Ich kann mir ja neue kaufen.“
Ich denke, arme Katzen. Was für ein Jammer.

Der Krebs frisst keinen Salat. Meine Mutter wird dünner. Wir gehen in die Stadt und kaufen ihr neue Kleider. Sie läuft mitten in den Stadtverkehr hinein.
Ich hechte hinterher und sage: „Pass auf! Die Ampel ist auf Rot!“
Sie sagt: „Willst du, dass ich an Krebs sterbe?“
Ich weiss nicht, was sagen und sage: „Ich weiss nicht, was sagen.“

Ich bin bei Magda zu Besuch.
Sie sagt, es gehe ihr besser, nicht gut, aber besser.
Ich sage: „Das freut mich“, und meine es auch so.
Magda sagt: „Ich sage meiner Mutter, die Kinder brauchen keine neuen Kleider. Sie haben genug Sachen. Dann kauft sie ihnen trotzdem welche. Die Kinder hören nicht mehr auf mich. Sie hören nur auf das Portemonnaie ihrer Grossmutter.“
Ich sage: „Das tut mir leid“, und meine es auch so.
Magda sagt: „Die Kinder bleiben bei ihrer Grossmutter.“
Ich sage: „Warum, es geht dir doch besser?“
Sie sagt: „Nicht stabil genug fürs Amt.“
Ich sage: „Das ist furchtbar“, und meine es auch so.
Magda sagt: „Niemand hört mir zu. Vielleicht kaufe ich mir eine Katze.“
Ich sage: „Ich wüsste da zwei aus einem Heim.“
Sie sagt: „Gut.“

Wir fliegen nach Italien. Meine Mutter will nochmals die Toscana sehen. Der Bruder ist nicht dabei.
Sie fragt. „Wo ist er?“
Ich sage: „Im Ausland.“
Meine Schwester sagt: „Spielt mit den Besten.“
Das Flugzeug wird durchgerüttelt.
Meine Schwester sagt: „Wir sind in Turbulenzen.“
Ich sage: „Ich habe Angst, wir stürzen ab.“
Meine Mutter sagt: „Was spielt das jetzt noch für eine Rolle.“

Meine Schwester sagt, sie habe Magda getroffen. Sie sei immer noch komisch.
Ich sage: „Niemand hört ihr zu.“
Meine Schwester sagt, ihre Kinder trügen jeden Tag neue Kleider, ob ich das normal fände?
Ich sage nochmals: „Niemand hört ihr zu.“

Wir trugen sie zu Grabe. Das Gift war schon zu weit vorgedrungen. Meine Schwester weint. Ich weine nicht. Ich denke, wahrscheinlich hockt sie auf einer Wolke und schaut auf uns hernieder. Ich blicke die anderen Trauergäste an. Magda ist nicht da. Dafür ihre Mutter mit Magdas drei herausgeputzten Kindern. Sie tragen scharf gezogene Seitenscheitel. Dazu schwarze Sonntagsanzüge mit schwarzen Westen und blank-weissen Hemden und schwarz-glänzende Lackschuhe. Sie sehen neu und steif aus. Ich denke, Mutter hat sie von ihrem Hochposten sicher auch schon gesehen.
Meine Schwester fragt, ob sie ihnen wohl am Abend ihr Lieblingsessen kocht.
Ich sage: „Arme Magda“, und denke, niemand hört ihr zu.
Der Bruder ist mit dem Motorrad zur Trauerfeier gekommen – aus dem Ausland.
Meine Schwester sagt: „Es ist eine 800er BMW.“
Ich sage: „Ich wünschte, er hätte einen besseren Geschmack.“
Er sagt: „Sie hätte eine bessere Behandlung, bessere Ärzte gebraucht.“
Ich schaue zu Magdas Mutter hinüber.
Ich sage: „Manchmal ist das Beste nicht gut genug.“
Meine Schwester sagt: „Grossmutter hätte weniger Verbranntes kochen sollen.“
Grossmutter sagt: „Was spielt das jetzt noch für eine Rolle.“
Der Bruder fragt: „Warum liest niemand ein Gedicht zum Abschied?“
Ich halte eine weisse Rose in den Händen. Der Duft ist betörend. Die Knospe reckt sich stolz zum Himmel. Ihre Blütenblätter sind formvollendet. Die Blätter am Stiel perfekt arrangiert. Die perfekte Rose, zur Vollendung hin gezüchtet.
Ich denke, sie kommt aus einen Gewächshaus. Draussen überlebt sie keinen Sommer.
Ich sage: „Ich weiss nicht warum, aber ich hasse Gedichte.“
Meine Schwester wischt sich die Tränen am ausgewaschenen, schwarzen Pulliärmel ab. Wir tragen keine Seitenscheitel und unsere Kleider sind nicht so kostbar, wie die von Magdas Kindern.
Ich denke, auf ihrem Hochsitz findet sie bestimmt, wenigstens zu ihrem Begräbnis hätten wir uns mehr Mühe geben können.
Ich sage: „Mach’s gut“, und meine es auch so. Ich werfe die Rose ins Grab.

Im Restaurant spielt der Bruder ein Requiem auf dem alten Klavier der Wirtsstube. Dann singt er dazu.
Meine Schwester sagt: „Er trifft die hohen Töne einfach so.“
Ich sage: „Das Klavier ist verstimmt.“
Meine Schwester sagt: „Was für ein Katzenjammer.“
Ich sage: „Nein, denen geht’s gut. Die sind jetzt bei Magda.“
Meine Schwester sagt: „Das ist ja furchtbar.“
Ich sage: „Nein, es ist ein Zuhause.“
Meine Schwester sagt: „Nicht die Katzen, das Klavierspiel.“
Ich sage: „Die Besten spielen so.“
Meine Schwester sagt: „Sie spielen nur für sich selbst.“
Der Bruder fragt: „Was gibt es für ein Leidessen? Es riecht verbrannt.“
Meine Schwester sagt: „Salatbuffet“.
Ich sage: „Es gibt noch andere Gäste.“
Der Bruder sagt: „Salatbuffet?“
Meine Schwester sagt: „Passt schon.“
Ich sage: „Das ist gesund und macht schlank.“
Der Bruder steigt aufs Motorrad.
Ich frage: „Bleibst du nicht zum Leidessen?“
Er sagt: „Lohnt sich nicht.“
Meine Schwester sagt: „Männer sich alle gleich.“
Ich denke, nicht mal Mutter ist eine 800er BMW.


Daniel spielt immer noch ‚Pour Elise’. Dann stoppt er, zieht neue Notenblätter hervor und sagt: „Und jetzt Mom, lerne ich mal was richtig Cooles.“
‚Herr der Ringe’ lese ich auf den Notenblättern und sage: „Respekt“.
Er sagt: „Das tönt wenigstens nach was!“
Ich stocke und sehe meine Mutter auf ihrem weissen Hochposten frohlocken.
Er lacht: „Du weisst doch, ich lieeebe Akkorde!“
Ich atme auf: „Ach so, ja.“ Meine Mutter verschwindet in der weissen Wolke.
Daniel sagt: „Morgen fange ich damit an.“ Seine Augen funkeln. Das Spiel ist eröffnet.
Ich sage, „Morgen gibt es Freibier!“, und wuschle ihm durchs Haar. Ich bin gespannt wie er diesmal die Essenz des Satzes zu seinen Gunsten in Luft auflösen wird.
Er grinst mir ins Gesicht und sagt: „Pfui Deubel! Wer will den schon Bier? Das ist nur was für Mofatypen!“
Wir lachen. Er steht auf und sagt: „Ich gehe Fussball spielen.“
„Papa kommt um 18.00. Dann gibt’s Abendessen.“, rufe ich hinterher.
„Alles klar“, tönt es vom Flur.