Doris Wirth

2008

Die Bademeisterin

von Doris Wirth


Die Wiese liegt noch feucht im Morgentau. Hanna würde gerne die Schuhe ausziehen, um das Gras zu spüren auf der Innenseite des Fusses, wo die Haut nicht ständig mit dem Boden in Berührung kommt und weich geblieben ist. Die Wiese trägt kaum Spuren der Leute, die gestern hier das Gras flachgedrückt haben. Nicht ein Papierchen entdeckt Hanna auf der grünen Fläche, die jetzt fast zu atmen scheint.
Sie löst ihren Blick von der Wiese und stellt die Mülleimer auf, die abends jeweils umgekippt werden, sobald sie zum letzten Mal geleert worden sind. Das Licht ist hell in diesen Tagen, so hell, das Hanna die Augen zusammenkneifen muss, wenn sie den Blick hebt und die Formen der Tannen der Horizontlinie entlang abtastet. Sie könnte ihre Brille aufsetzen, aber früh am Morgen mag sie es, wenn das Licht fast sticht in den Augen, wenn sie merkt, dass sie jetzt wach ist. Gianni wird später mit der Maschine über die Wege fahren, um sie zu kehren, Hanna hat ihn schon auf die Garage zusteuern sehen. Er fährt immer die Maschine, wenn er hier ist, auch, wenn es geregnet hat und die Wege blank gewaschen sind. Da niemand weiss, wie man das kreisende Signallicht ausschalten kann, sitzt er auf dem Fahrersitz, wie auf einem Kutscherbock, denkt Hanna, und schaut mit ernster Miene, während über ihm das orange Licht im Sonnenschein kreist.
An den Wegrändern sind Beete angelegt. Links vor den Damentoiletten wächst ein Zitronenbaum, der erst im Herbst Früchte tragen wird. Ein Meter rechts davon haben sie neulich ein Wespennest gefunden, ein Erdloch. Die Wespen waren sehr aggressiv, das sagten jedenfalls die andern, die alle schon Erfahrungen mit Erdlochwespen gemacht hatten.
Hanna bildet sich ein, ihr könnten die Wespen nichts anhaben, sie besitze die Fähigkeit, die Tiere zu beruhigen.
Hanna wischt den Beckenumlauf und den Affenfelsen mit dem Reisigbesen, sie mag das Knirschen der Äste auf dem Beton. Heute hat sie die erste Schicht am Schwimmer. Das Wasser liegt gespannt wie eine glatte Haut. Schön wie eine frisch beschneite Fläche, bevor die ersten Hasen und Rehe ihre Spuren hinterlassen, bevor später Bretter und Skier ihre Linien ziehen, bis der Schnee zu bröckligem Pulver wird und niemand mehr eine Fläche erkennen kann. Wenn noch keiner hier ist, leuchtet das blaue Quadrat und der Beton bildet den zurückhaltenden Hintergrund, auf dem das Wasser leuchten kann und Hanna würde das gerne malen können.
Bald werden die ersten Morgenschwimmer kommen und ihre Kleider am Beckenrand niederlegen, sorgfältig zusammen gefaltet oder lose hingeworfen. Stumm werden sie ins Wasser springen und mit kräftigen Zügen das Becken durchkämmen, als gälte es, ein schlafendes Tier wachzubürsten. Wie ein stummer Tanz, denkt Hanna, den sie, einer unausgesprochenen Gesetzmässigkeit gehorchend, blind vollziehen. Und wenn die Morgenschwimmer aus dem Wasser steigen und flüchtige Amöbenflecken auf dem Beton hinterlassen, wenn sie ihre Kleider vom Boden aufheben und wieder mit ihren Körpern füllen, wenn sie dann mit weichen Schritten das Bad verlassen, dann möchte Hanna ihnen folgen in einen fremden Tag.
Auf der kleinen Wieseliege rechts vom Schwimmer hat eine Frau ihren Liegstuhl aufgebaut. Jeden Tag sitzt sie da und nimmt ihre kurzen Beinchen hoch, so dass ihr massiger Körper einer Kugel gleicht. Die Kugelfrau nickt Hanna zu, sie strickt eifrig an einem kleinen Quadrat. Das soll eine Decke geben, hat sie Hanna neulich gesagt, damit sie sich nächsten Sommer zudecken kann, wenn ein kühler Wind weht. Jeden Tag will sie mindestens ein Quadrat schaffen.
Hanna lächelt in sich hinein und schlendert über die grosse Wiese, die Hauptliegewiese. In der Mitte steht ein alter Baum, der mit seiner weiten Krone Schatten für ungefähr fünf Familien spendet. Sven schiebt oben am Nichtschwimmer den roten Staubsauger vor sich hin. Hanna weiss nicht, ob er diese Aufgabe wirklich mag, oder ob er jedesmal den Staubsauger übernimmt, in Ruhe gelassen zu werden. Sven mag es nicht, lange zu diskutieren und gibt lieber nach, das haben die andern schnell gemerkt. Wie Hanna ist er nur Aushilfe hier, vielleicht traut er ihr deshalb und erzählt ihr von seinen Zeiten in Paris, von seiner verstorbenen Freundin und von den neusten Entwicklungen der digitalen Kameras. Sven trägt sein graues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wenn er spricht, leuchten seine Augen wie die von einem Jungen und Hanna kann sich ihn gut vorstellen als Kind, wie er Stunden alleine am Wasser verbringt und Moos sortiert. Und Hanna fragt sich, wie zwei Zeiten so dicht nebeneinander in einem Gesicht leben können. Und ob sie diesem leichten Sprudeln, das der Blick in ihr auslöst, irgendwann nachgeben soll.
Das Nichtschwimmerbecken ist noch leer, lose treiben die Styroporinseln übers Wasser. Das Becken ist hellblau gestrichen, darum wirkt das Wasser heller als das Marineblau am Schwimmer unten. Lavendelsträucher säumen den linken Rand des Beckens. Hanna ist froh, dass die Lavendelsträucher da sind. Manchmal zerreibt sie beim Vorbeischlendern eine Blüte zwischen ihren Fingern und riecht und vergisst so für einen Moment den Kinderlärm und die prallen Bäuche rauchender Väter. Lavendel, denkt Hanna, ist woanders, immerzu.
Manchmal belegen die Kinder die Styroporinseln zu dritt oder zu viert. Wenn sie sich darauf stellen und sich der Mauer vom Kanal nähern, warnt Hanna sie. Ein paar Jungs ziehen die Inseln jeweils an den Beckenrand und spielen da einen Boxenstopp durch, der kompetent und schnell ausgeführt werden muss. Einer erteilt Befehle und die andern wechseln dem Auto die Räder.
Hin und wieder zieht es junge Päärchen ins Kinderbecken, vielleicht, weil das Wasser da nur hüfthoch ist. Die Päärchen sind nie älter als zwanzig und Hanna schaut ihnen zu, wie sie sich durchs Wasser schieben oder auf der Liegewiese hinter dem Nichtschwimmer einander den Rücken eincrèmen. Manchmal bleiben sie dann so liegen, irgendwie aufeinander, einfach um zu gucken, wie das so ist, wenn man sein Gewicht abgibt und quer auf dem andern liegt. Hanna wundert sich dann kurz und würde gerne noch genauer zuschauen und nachdenken. Neulich ist ein Mädchen am Beckenrand gesessen, elf, zwölf Jahre vielleicht. Das Mädchen war mit seinem Vater oder Onkel da, der bereits ins Wasser gestiegen war und das Mädchen ermunterte, auch zu kommen. Sie schlenkerte die Beine im Wasser, die Hände hatte sie unter den Oberschenkeln verstaut, und schüttelte den Kopf. Das Haar trug sie in einem Pferdeschwanz und zog die Schultern leicht hoch, während sie ihren Nacken beugte und unbeweglich ins Wasser starrte. Hanna war befangen, sie hätte weiter ihre Runde drehen sollen, aber sie konnte sich kaum bewegen. Sie konnte nicht aufhören, das Mädchen anzuschauen und als es sich erhob, tastete Hanna ihren Körper zentimeterweise mit den Augen ab und traute sich kaum zu atmen.
Als sie sich zwang, weiter zu gehen, waren ihre Knie weich und ihr Kopf seltsam sturm. Sie hatte das Gefühl, man könne ihr unter die Haut sehen und war traurig. Jene Art von Traurigkeit, wie wenn sie eine Kirchenmusik hörte, die sie in den Knochen berührte.
Ein Reh, dachte Hanna oder eher eine Antilope. Wäre sie gern so ein Mädchen gewesen? Würde sie gern für immer am Beckenrand sitzen wie das Kind und schön aussehen? Hanna sehnte sich nach Wind. Eine Frau in einem praktischen Bikini ging vor ihr her, deren Fleisch bei jedem Schritt zitterte und die sich nicht zu schämen schien, so roh und ausgestellt zum Kiosk zu laufen, eine Mutter, die vielleicht Eis für ihre Kinder holte. Hanna versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ihr Mann zu sein und es gelang ihr nicht, sie lieblich zu finden. Hanna wurde übel und sie dachte, dass sich ihre Gedanken an dem Tag sehr unruhig verhielten.
Hanna streicht um das Becken herum und tastet die Wasseroberfläche mit den Kinderköpfen ab. Hin und wieder taucht ein Kind sehr lange unter und seine Konturen verschwimmen im Wasser und ihr stockt kurz der Atem. Aber dann taucht das Kind lachend wieder auf. Nur im Traum taucht das Kind manchmal nicht mehr auf. Dann weiss Hanna, dass sie jetzt springen muss, sofort und manchmal schafft sie es. Sie rettet das Kind, dessen Haare hell leuchten im Dunkel des Wassers, und wenn sie es an Land geholt hat, drückt sie den Kinderkörper weich an sich. Manchmal steht sie jedoch da und irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Kopf, sie ist dann zu langsam für alles, sie kann ihre Beine nur schwer bewegen und bis sie endlich unten ist, ist das Kind längst tot. Aber bevor sie das Kind erreicht, erwacht sie.
Ein paar Mädchen springen quietschend ins Wasser und spritzen sich voll. Eines trägt Shorts und preist mit lauter Stimme sein Können an. Es ist drahtig und hüpft unablässig herum. Hanna geht ruhigen Schrittes weiter, fragt sich aber, ob sie auch einmal so herumspringen konnte. Oder ob sie schon als Kind wie angewurzelt in der Ecke stand und sich dunkel und schwer wie ein Baum fühlte. Langsam schiebt Hanna ihren Körper durch die Wärme. Sie würde gerne jetzt sofort ausprobieren, ob sie noch rennen kann. Ob ihre Beine sie trügen, wenn sie springt. Hanna strafft ihre Schultern und spannt probeweise die Bauchmuskeln an.
Warum trägst du eine Feder im Hut, fragt ein winziges Kind Hanna, ob das nicht gefährlich sei, wegen der Vogelgrippe. Kommst du nicht ins Wasser, fragt es, du brauchst doch auch eine Erfrischung, und zupft an den Bändeln seiner rosa Badehose. Plötzlich springt es ins Wasser, taucht am Beckenrand auf und benetzt Hannas Füsse mit seinen kühlen Händen. Hanna schaut auf ihre Füsse und fragt sich, wann ihre Füsse so gewachsen sind. Ihre Zehen sind rot und rauh. Sie denkt an den Fuss ihrer Mutter, den sie früher in die Luft ragend vor Augen hatte, wenn sie zwischen ihren Beinen sass: beim Spielen im Wasser, beim Spielen im Sand. Und Hanna sieht, dass auch ihr grosser Zeh krumm ist. Das ist der Mutterfuss.
Eine Hummel saugt an einer Sommeraster. Ihr Körper ist pelzig und weich, von allen Insekten mag Hanna Hummeln am liebsten. Natürlich sind Schmetterlinge schön, aber wenn man von den Flügeln absieht, haben sie einen hässlichen Insektenkörper, der Hanna ekelt. Sie wechselt zum Sportbecken, wo Jean-Claude seine Runden dreht. Er hebt die Füsse kaum, wenn er geht und seine Handflächen kippen sich nach vorne und nach hinten bei jedem Schritt, als würde er sich durch die Luft schaufeln. Der Schwerpunkt liegt etwas zu weit vorne, wie bei den Figuren im Comic, die über ihre eigenen Füsse stolpern. Manchmal zieht er seine Schuhe aus und wenn ein warmer Wind geht, sagt er zu Hanna, heut sei es wie am Meer. Jean-Claude übernimmt die meisten Sportschichten pro Tag, hier kann er in Ruhe rauchen und in der Sanität hat er einen Schrank mit seiner Plattensammlung gefüllt. Einmal hat Hanna nach einer Schwimmbrille gesucht und in seinem Spind einen Schlafsack entdeckt. Jean-Claude sieht meistens übernächtigt aus und hält die Augen halb geschlossen. Wenn er in der Sonne sitzt, wirkt er wie ein träge Schildkröte, aber Hanna hat gemerkt, dass er in Wirklichkeit sehr wach ist und mehr weiss, als man denken könnte. Sein Lieblingsspiel ist es, andere Leute ein Lied raten zu lassen. Auch von Filmen weiss er die Drehdaten und die Namen fast aller Schauspieler. Jean-Claude arbeitet seit über zwanzig Jahren hier. Oft wirkt er ein wenig abgelöscht, wie jemand, der alles schon gesehen hat und in Frieden gelassen werden will. Hanna mag es, sich neben ihn auf die Steintreppe zu setzen und den Blick übers Wasser streifen zu lassen. Sie mag den Singsang seines französischen Akzentes, der sich die Jahre über in seinem Schweizerdeutsch erhalten hat. Manchmal stellt sie ihm Fragen nach seiner Herkunft und Jean-Claude scheint sie zu verstehen und tischt ihr in gleichgültigem Tonfall Sagen über Berge, Grossmütter und ganze Dörfer auf.
Im Schwimmer tummelt sich jetzt Allerlei. Jungs werfen sich gegenseitig ins Wasser und Hanna muss sie ermahnen, alte Frauen fragen nach der Massagedüse und in den hintern zwei Bahnen schwimmen Sportler unablässig. Am Beckenrand liegen Tücher ausgebreitet. Auf dem Affenfelsem schauen manche den Schwimmenden zu, andere liegen auf dem Rücken und betrachten den Himmel. Hanna denkt daran, wie sie als Kind jeweils zitternd aus dem Wasser geklettert ist, die Lippen schon blau. Und wie schön es dann war, sich nass auf den warmen Stein zu legen. Sie weiss, wie der Beton roch und wie sich zwischen dem Stein und ihrem Ohr ein Vakuum bildete, das sanft ploppte, wenn sie es löste. Wenn man dann aufstand, war man stolz auf den Abdruck, den der Körper auf dem Stein hinterlassen hatte.
Hanna bewegt sich langsam am Beckenrand entlang. Den Bewegungen der Sportschwimmer zu folgen, beruhigt sie und entspannt ihre Augen. Einmal ist ein Gewitter aufgezogen, als sie Aufsicht hatte. Hanna hatte es schon lange über dem Hügel kommen sehen. Plötzlich wurde der Himmel binnen Minuten schwarz. Hanna lotste alle Schwimmer aus dem Wasser, nur eine Frau hörte sie nicht und schwamm immer weiter. Hanna schrie sie an und fuchtelte mit den Armen, bis sie endlich verstand. Der erste Blitz liess nicht lange auf sich warten und auf einmal prasselte der Regen und der Himmel verdunkelte sich, als wäre es Nacht geworden. Hanna hatte den Bademeister-Sonneschirm zur Sanität gebracht, als das Wasser unter der Tür reinzufliesseln begann. Sie wollte einen Lappen im Geräteschuppen holen, um aufzuwischen, doch als sie die Tür aufstemmte und in den strömenden Regen gelangte, fragte sie sich, wo Gianni und die andern waren und stellte sich zum Schutz unter das Dach der Umziehkabinen. Die Gäste mussten sich alle in die Kabinen verkrochen haben, Hanna sah niemanden mehr. Die Anlage war leer gefegt, auch von ihren Kollegen war weit und breit keiner zu entdecken.
Später war das Nichtschwimmerbecken voller Blätter. Hanna holte ihren Badeanzug, nachdem der Regen sich verzogen hatte, und tauchte mit der Taucherbrille nach den Blättern, die zu gross waren für den Wasserstaubsauger. Durch die Taucherbrille leuchteten die Blätter gelb und orange im hellblauen Wasser. Schwebend erreichte Hanna Blatt um Blatt.
Bald schon werden die Leute gehen, werden ihre Decken zusammenfalten und die leergegessenen Tupperware stapeln. Hanna wird sich dann mit Gianni und den andern ans Wasser setzen und warten, bis die letzten Leute gegangen sind.
Dann, wenn Gianni und Sven und Jean-Claude und die andern sich verabschiedet haben, wird Hanna vielleicht noch bleiben. Sie könnte sich auf den Stein legen und fühlen, wie er noch immer Wärme gespeichert hat, den Himmel anschauen und warten, bis er langsam seine Farbe verliert. Sie könnte die Schuhe ausziehen und über die Wiese streifen oder losrennen und schauen, ob ihr Körper sie noch trägt. Sie könnte sich zum Lavendel legen und sich wünschen, sie trüge ein Sommerkleid. Oder ins Wasser tauchen und fühlen, wie sie leicht wird und wie das Wasser sie aufnimmt, als gehörte sie zu ihm.