Doris Wirth
Die Bademeisterin
von Doris Wirth
Die Wiese liegt noch feucht im Morgentau. Hanna würde gerne die Schuhe
ausziehen, um das Gras zu spüren auf der Innenseite des Fusses, wo die
Haut nicht ständig mit dem Boden in Berührung kommt und weich geblieben
ist. Die Wiese trägt kaum Spuren der Leute, die gestern hier das Gras
flachgedrückt haben. Nicht ein Papierchen entdeckt Hanna auf der grünen
Fläche, die jetzt fast zu atmen scheint.
Sie löst ihren Blick von der Wiese und stellt die Mülleimer auf, die
abends jeweils umgekippt werden, sobald sie zum letzten Mal geleert
worden sind. Das Licht ist hell in diesen Tagen, so hell, das Hanna die
Augen zusammenkneifen muss, wenn sie den Blick hebt und die Formen der
Tannen der Horizontlinie entlang abtastet. Sie könnte ihre Brille
aufsetzen, aber früh am Morgen mag sie es, wenn das Licht fast sticht in den Augen, wenn sie merkt, dass sie jetzt wach ist. Gianni wird später
mit der Maschine über die Wege fahren, um sie zu kehren, Hanna hat ihn
schon auf die Garage zusteuern sehen. Er fährt immer die Maschine, wenn
er hier ist, auch, wenn es geregnet hat und die Wege blank gewaschen
sind. Da niemand weiss, wie man das kreisende Signallicht ausschalten
kann, sitzt er auf dem Fahrersitz, wie auf einem Kutscherbock, denkt
Hanna, und schaut mit ernster Miene, während über ihm das orange Licht
im Sonnenschein kreist.
An den Wegrändern sind Beete angelegt. Links vor den Damentoiletten
wächst ein Zitronenbaum, der erst im Herbst Früchte tragen wird. Ein
Meter rechts davon haben sie neulich ein Wespennest gefunden, ein
Erdloch. Die Wespen waren sehr aggressiv, das sagten jedenfalls die
andern, die alle schon Erfahrungen mit Erdlochwespen gemacht hatten.
Hanna bildet sich ein, ihr könnten die Wespen nichts anhaben, sie besitze die Fähigkeit, die Tiere zu beruhigen.
Hanna wischt den Beckenumlauf und den Affenfelsen mit dem Reisigbesen,
sie mag das Knirschen der Äste auf dem Beton. Heute hat sie die erste
Schicht am Schwimmer. Das Wasser liegt gespannt wie eine glatte Haut.
Schön wie eine frisch beschneite Fläche, bevor die ersten Hasen und Rehe ihre Spuren hinterlassen, bevor später Bretter und Skier ihre Linien
ziehen, bis der Schnee zu bröckligem Pulver wird und niemand mehr eine
Fläche erkennen kann. Wenn noch keiner hier ist, leuchtet das blaue
Quadrat und der Beton bildet den zurückhaltenden Hintergrund, auf dem
das Wasser leuchten kann und Hanna würde das gerne malen können.
Bald werden die ersten Morgenschwimmer kommen und ihre Kleider am
Beckenrand niederlegen, sorgfältig zusammen gefaltet oder lose
hingeworfen. Stumm werden sie ins Wasser springen und mit kräftigen
Zügen das Becken durchkämmen, als gälte es, ein schlafendes Tier
wachzubürsten. Wie ein stummer Tanz, denkt Hanna, den sie, einer
unausgesprochenen Gesetzmässigkeit gehorchend, blind vollziehen. Und
wenn die Morgenschwimmer aus dem Wasser steigen und flüchtige
Amöbenflecken auf dem Beton hinterlassen, wenn sie ihre Kleider vom
Boden aufheben und wieder mit ihren Körpern füllen, wenn sie dann mit
weichen Schritten das Bad verlassen, dann möchte Hanna ihnen folgen in
einen fremden Tag.
Auf der kleinen Wieseliege rechts vom Schwimmer hat eine Frau ihren
Liegstuhl aufgebaut. Jeden Tag sitzt sie da und nimmt ihre kurzen
Beinchen hoch, so dass ihr massiger Körper einer Kugel gleicht. Die
Kugelfrau nickt Hanna zu, sie strickt eifrig an einem kleinen Quadrat.
Das soll eine Decke geben, hat sie Hanna neulich gesagt, damit sie sich
nächsten Sommer zudecken kann, wenn ein kühler Wind weht. Jeden Tag will sie mindestens ein Quadrat schaffen.
Hanna lächelt in sich hinein und schlendert über die grosse Wiese, die
Hauptliegewiese. In der Mitte steht ein alter Baum, der mit seiner
weiten Krone Schatten für ungefähr fünf Familien spendet. Sven schiebt
oben am Nichtschwimmer den roten Staubsauger vor sich hin. Hanna weiss
nicht, ob er diese Aufgabe wirklich mag, oder ob er jedesmal den
Staubsauger übernimmt, in Ruhe gelassen zu werden. Sven mag es nicht,
lange zu diskutieren und gibt lieber nach, das haben die andern schnell
gemerkt. Wie Hanna ist er nur Aushilfe hier, vielleicht traut er ihr
deshalb und erzählt ihr von seinen Zeiten in Paris, von seiner
verstorbenen Freundin und von den neusten Entwicklungen der digitalen
Kameras. Sven trägt sein graues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Wenn er spricht, leuchten seine Augen wie die von einem Jungen und Hanna kann sich ihn gut vorstellen als Kind, wie er Stunden alleine am Wasser verbringt und Moos sortiert. Und Hanna fragt sich, wie zwei Zeiten so
dicht nebeneinander in einem Gesicht leben können. Und ob sie diesem
leichten Sprudeln, das der Blick in ihr auslöst, irgendwann nachgeben
soll.
Das Nichtschwimmerbecken ist noch leer, lose treiben die Styroporinseln
übers Wasser. Das Becken ist hellblau gestrichen, darum wirkt das Wasser heller als das Marineblau am Schwimmer unten. Lavendelsträucher säumen
den linken Rand des Beckens. Hanna ist froh, dass die Lavendelsträucher
da sind. Manchmal zerreibt sie beim Vorbeischlendern eine Blüte zwischen ihren Fingern und riecht und vergisst so für einen Moment den
Kinderlärm und die prallen Bäuche rauchender Väter. Lavendel, denkt
Hanna, ist woanders, immerzu.
Manchmal belegen die Kinder die Styroporinseln zu dritt oder zu viert.
Wenn sie sich darauf stellen und sich der Mauer vom Kanal nähern, warnt
Hanna sie. Ein paar Jungs ziehen die Inseln jeweils an den Beckenrand
und spielen da einen Boxenstopp durch, der kompetent und schnell
ausgeführt werden muss. Einer erteilt Befehle und die andern wechseln
dem Auto die Räder.
Hin und wieder zieht es junge Päärchen ins Kinderbecken, vielleicht,
weil das Wasser da nur hüfthoch ist. Die Päärchen sind nie älter als
zwanzig und Hanna schaut ihnen zu, wie sie sich durchs Wasser schieben
oder auf der Liegewiese hinter dem Nichtschwimmer einander den Rücken
eincrèmen. Manchmal bleiben sie dann so liegen, irgendwie aufeinander,
einfach um zu gucken, wie das so ist, wenn man sein Gewicht abgibt und
quer auf dem andern liegt. Hanna wundert sich dann kurz und würde gerne
noch genauer zuschauen und nachdenken. Neulich ist ein Mädchen am
Beckenrand gesessen, elf, zwölf Jahre vielleicht. Das Mädchen war mit
seinem Vater oder Onkel da, der bereits ins Wasser gestiegen war und das Mädchen ermunterte, auch zu kommen. Sie schlenkerte die Beine im
Wasser, die Hände hatte sie unter den Oberschenkeln verstaut, und
schüttelte den Kopf. Das Haar trug sie in einem Pferdeschwanz und zog
die Schultern leicht hoch, während sie ihren Nacken beugte und
unbeweglich ins Wasser starrte. Hanna war befangen, sie hätte weiter
ihre Runde drehen sollen, aber sie konnte sich kaum bewegen. Sie konnte
nicht aufhören, das Mädchen anzuschauen und als es sich erhob, tastete
Hanna ihren Körper zentimeterweise mit den Augen ab und traute sich kaum zu atmen.
Als sie sich zwang, weiter zu gehen, waren ihre Knie weich und ihr Kopf
seltsam sturm. Sie hatte das Gefühl, man könne ihr unter die Haut sehen
und war traurig. Jene Art von Traurigkeit, wie wenn sie eine
Kirchenmusik hörte, die sie in den Knochen berührte.
Ein Reh, dachte Hanna oder eher eine Antilope. Wäre sie gern so ein
Mädchen gewesen? Würde sie gern für immer am Beckenrand sitzen wie das
Kind und schön aussehen? Hanna sehnte sich nach Wind. Eine Frau in einem praktischen Bikini ging vor ihr her, deren Fleisch bei jedem Schritt
zitterte und die sich nicht zu schämen schien, so roh und ausgestellt
zum Kiosk zu laufen, eine Mutter, die vielleicht Eis für ihre Kinder
holte. Hanna versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ihr Mann zu sein
und es gelang ihr nicht, sie lieblich zu finden. Hanna wurde übel und
sie dachte, dass sich ihre Gedanken an dem Tag sehr unruhig verhielten.
Hanna streicht um das Becken herum und tastet die Wasseroberfläche mit
den Kinderköpfen ab. Hin und wieder taucht ein Kind sehr lange unter und seine Konturen verschwimmen im Wasser und ihr stockt kurz der Atem.
Aber dann taucht das Kind lachend wieder auf. Nur im Traum taucht das
Kind manchmal nicht mehr auf. Dann weiss Hanna, dass sie jetzt springen
muss, sofort und manchmal schafft sie es. Sie rettet das Kind, dessen
Haare hell leuchten im Dunkel des Wassers, und wenn sie es an Land
geholt hat, drückt sie den Kinderkörper weich an sich. Manchmal steht
sie jedoch da und irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Kopf, sie ist dann
zu langsam für alles, sie kann ihre Beine nur schwer bewegen und bis sie endlich unten ist, ist das Kind längst tot. Aber bevor sie das Kind
erreicht, erwacht sie.
Ein paar Mädchen springen quietschend ins Wasser und spritzen sich voll. Eines trägt Shorts und preist mit lauter Stimme sein Können an. Es ist
drahtig und hüpft unablässig herum. Hanna geht ruhigen Schrittes weiter, fragt sich aber, ob sie auch einmal so herumspringen konnte. Oder ob
sie schon als Kind wie angewurzelt in der Ecke stand und sich dunkel und schwer wie ein Baum fühlte. Langsam schiebt Hanna ihren Körper durch
die Wärme. Sie würde gerne jetzt sofort ausprobieren, ob sie noch rennen kann. Ob ihre Beine sie trügen, wenn sie springt. Hanna strafft ihre
Schultern und spannt probeweise die Bauchmuskeln an.
Warum trägst du eine Feder im Hut, fragt ein winziges Kind Hanna, ob das nicht gefährlich sei, wegen der Vogelgrippe. Kommst du nicht ins
Wasser, fragt es, du brauchst doch auch eine Erfrischung, und zupft an
den Bändeln seiner rosa Badehose. Plötzlich springt es ins Wasser,
taucht am Beckenrand auf und benetzt Hannas Füsse mit seinen kühlen
Händen. Hanna schaut auf ihre Füsse und fragt sich, wann ihre Füsse so
gewachsen sind. Ihre Zehen sind rot und rauh. Sie denkt an den Fuss
ihrer Mutter, den sie früher in die Luft ragend vor Augen hatte, wenn
sie zwischen ihren Beinen sass: beim Spielen im Wasser, beim Spielen im
Sand. Und Hanna sieht, dass auch ihr grosser Zeh krumm ist. Das ist der
Mutterfuss.
Eine Hummel saugt an einer Sommeraster. Ihr Körper ist pelzig und weich, von allen Insekten mag Hanna Hummeln am liebsten. Natürlich sind
Schmetterlinge schön, aber wenn man von den Flügeln absieht, haben sie
einen hässlichen Insektenkörper, der Hanna ekelt. Sie wechselt zum
Sportbecken, wo Jean-Claude seine Runden dreht. Er hebt die Füsse kaum,
wenn er geht und seine Handflächen kippen sich nach vorne und nach
hinten bei jedem Schritt, als würde er sich durch die Luft schaufeln.
Der Schwerpunkt liegt etwas zu weit vorne, wie bei den Figuren im Comic, die über ihre eigenen Füsse stolpern. Manchmal zieht er seine Schuhe
aus und wenn ein warmer Wind geht, sagt er zu Hanna, heut sei es wie am
Meer. Jean-Claude übernimmt die meisten Sportschichten pro Tag, hier
kann er in Ruhe rauchen und in der Sanität hat er einen Schrank mit
seiner Plattensammlung gefüllt. Einmal hat Hanna nach einer
Schwimmbrille gesucht und in seinem Spind einen Schlafsack entdeckt.
Jean-Claude sieht meistens übernächtigt aus und hält die Augen halb
geschlossen. Wenn er in der Sonne sitzt, wirkt er wie ein träge
Schildkröte, aber Hanna hat gemerkt, dass er in Wirklichkeit sehr wach
ist und mehr weiss, als man denken könnte. Sein Lieblingsspiel ist es,
andere Leute ein Lied raten zu lassen. Auch von Filmen weiss er die
Drehdaten und die Namen fast aller Schauspieler. Jean-Claude arbeitet
seit über zwanzig Jahren hier. Oft wirkt er ein wenig abgelöscht, wie
jemand, der alles schon gesehen hat und in Frieden gelassen werden will. Hanna mag es, sich neben ihn auf die Steintreppe zu setzen und den
Blick übers Wasser streifen zu lassen. Sie mag den Singsang seines
französischen Akzentes, der sich die Jahre über in seinem
Schweizerdeutsch erhalten hat. Manchmal stellt sie ihm Fragen nach
seiner Herkunft und Jean-Claude scheint sie zu verstehen und tischt ihr
in gleichgültigem Tonfall Sagen über Berge, Grossmütter und ganze Dörfer auf.
Im Schwimmer tummelt sich jetzt Allerlei. Jungs werfen sich gegenseitig
ins Wasser und Hanna muss sie ermahnen, alte Frauen fragen nach der
Massagedüse und in den hintern zwei Bahnen schwimmen Sportler
unablässig. Am Beckenrand liegen Tücher ausgebreitet. Auf dem
Affenfelsem schauen manche den Schwimmenden zu, andere liegen auf dem
Rücken und betrachten den Himmel. Hanna denkt daran, wie sie als Kind
jeweils zitternd aus dem Wasser geklettert ist, die Lippen schon blau.
Und wie schön es dann war, sich nass auf den warmen Stein zu legen. Sie
weiss, wie der Beton roch und wie sich zwischen dem Stein und ihrem Ohr
ein Vakuum bildete, das sanft ploppte, wenn sie es löste. Wenn man dann
aufstand, war man stolz auf den Abdruck, den der Körper auf dem Stein
hinterlassen hatte.
Hanna bewegt sich langsam am Beckenrand entlang. Den Bewegungen der
Sportschwimmer zu folgen, beruhigt sie und entspannt ihre Augen. Einmal
ist ein Gewitter aufgezogen, als sie Aufsicht hatte. Hanna hatte es
schon lange über dem Hügel kommen sehen. Plötzlich wurde der Himmel
binnen Minuten schwarz. Hanna lotste alle Schwimmer aus dem Wasser, nur
eine Frau hörte sie nicht und schwamm immer weiter. Hanna schrie sie an
und fuchtelte mit den Armen, bis sie endlich verstand. Der erste Blitz
liess nicht lange auf sich warten und auf einmal prasselte der Regen und der Himmel verdunkelte sich, als wäre es Nacht geworden. Hanna hatte
den Bademeister-Sonneschirm zur Sanität gebracht, als das Wasser unter
der Tür reinzufliesseln begann. Sie wollte einen Lappen im
Geräteschuppen holen, um aufzuwischen, doch als sie die Tür aufstemmte
und in den strömenden Regen gelangte, fragte sie sich, wo Gianni und die andern waren und stellte sich zum Schutz unter das Dach der
Umziehkabinen. Die Gäste mussten sich alle in die Kabinen verkrochen
haben, Hanna sah niemanden mehr. Die Anlage war leer gefegt, auch von
ihren Kollegen war weit und breit keiner zu entdecken.
Später war das Nichtschwimmerbecken voller Blätter. Hanna holte ihren
Badeanzug, nachdem der Regen sich verzogen hatte, und tauchte mit der
Taucherbrille nach den Blättern, die zu gross waren für den
Wasserstaubsauger. Durch die Taucherbrille leuchteten die Blätter gelb
und orange im hellblauen Wasser. Schwebend erreichte Hanna Blatt um
Blatt.
Bald schon werden die Leute gehen, werden ihre Decken zusammenfalten und die leergegessenen Tupperware stapeln. Hanna wird sich dann mit Gianni
und den andern ans Wasser setzen und warten, bis die letzten Leute
gegangen sind.
Dann, wenn Gianni und Sven und Jean-Claude und die andern sich
verabschiedet haben, wird Hanna vielleicht noch bleiben. Sie könnte sich auf den Stein legen und fühlen, wie er noch immer Wärme gespeichert
hat, den Himmel anschauen und warten, bis er langsam seine Farbe
verliert. Sie könnte die Schuhe ausziehen und über die Wiese streifen
oder losrennen und schauen, ob ihr Körper sie noch trägt. Sie könnte
sich zum Lavendel legen und sich wünschen, sie trüge ein Sommerkleid.
Oder ins Wasser tauchen und fühlen, wie sie leicht wird und wie das
Wasser sie aufnimmt, als gehörte sie zu ihm.