Katharina Geiser

Geboren 1956, lebt in Wädenswil (2005)
Werke (Auswahl)
Diese Gezeiten.
Jung und Jung Verlag, 2011
Vorübergehend Wien.
Zsolnay & Deuticke Verlag, 2006
Diese Gezeiten
Jung und Jung Verlag, 2011
Als die Deutschen 1940 Jersey okkupierten, begannen die Fotografinnen Lucy Schwob und Suzanne Malherbe, die sich aus den Salons der Pariser Surrealisten auf die Kanalinsel zurückgezogen hatten, anonyme antifaschistische Collagen zu streuen: Widerstand als künstlerische Aktion. Zum Preis von Haft und Todesurteil. Behutsam und unerschrocken begibt sich Katharina Geiser auf die Spuren der Künstlerinnen und ihrer zufälligen Entourage. Im beschränkten Aktionsfeld erst der Insel und dann nurmehr des Gefängnisinneren wird die grosse Geschichte sichtbar.
Aus: Katharina Geiser. Diese Gezeiten. Jung und Jung Verlag, 2011
Man gewöhnt sich schrecklicherweise an fast alles, aber niemals gewöhne ich mich an so viel Insel, an die Einzelzelle. Eine Insel ohne Wasser ist surreal. Früher in Paris hätte mir das gefallen können, damals, wo wir uns jederzeit in die Bequemlichkeit des Plüschs haben retten können. Und bestimmt werde ich mich niemals an das doppelte S gewöhnen – die Sorgen um dich und die Sehnsucht nach dir. Sehnsucht ist ein verflucht gutes deutsches Wort.
So, 20.05.12, 13:00
Vorübergehend Wien
Zsolnay & Deuticke Verlag, 2006
Aus: Katharina Geiser. Vorübergehend Wien. Zsolnay & Deuticke Verlag, 2006
Bleiben oder.
Anni und Franz Bial verließen ein einziges Kind, hatten es aber drei Jahre zuvor aus ihrer Fürsorge entlassen, indem sie es auf einen der Kindertransporte nach England geschickt hatten. Das war schlicht schrecklich. Sie packten ihm einen Koffer, schwer durfte er nicht sein und nichts Kostbares enthalten. Sicherlich steckten sie Zeichen oder etwas ans Herz Gewachsenes zwischen das Notwendige: eine Musikdose, vielleicht einen abgeliebten Bär, ein paar Fotos oder einen gestrickten Kasper mit den drei Gutenacht-Knöpfen: zum schnellen Einschlafen, süß Träumen und zum immer wieder Aufwachen. Die Eltern waren unschlüssig in ihren letzten Anweisungen. In den Berührungen, die auch für die künftigen fehlenden Berührungen herhalten sollten. Hoben es, reichten es. Sahen dem Kind nach, dem Zug, in dem es mit den vielen andern Kindern ans Fenster drängte und der sich entfernte, auf einem Bahnsteig des Westbahnhofs standen Franz und Anni, liefen noch ein paar Schritte mit, sie wankten oder rührten sich nicht, Taschentücher flatterten, die Arme wurden groß geschwenkt, als könnte man das Kind nochmals zurückholen. Aber die Waggons ratterten weg, wurden von der diesigen oder gleißenden Ferne angesogen, jedenfalls wanden sie sich zitternd aus dem Blick, wurden so klein, daß man sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrücken konnte. Selten wurde ein Kind durchs Fenster des schon fahrenden Zugs zurückgerissen, aber es kam vor.