Katja Lange-Müller (DE)
Verfrühte Tierliebe
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 1995
Aus: Katja Lange-Müller. Verfrühte Tierliebe. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 1995
Unsere Schule war ein fast quadratischer Bau aus rotgelben Ziegeln, unter dessen Dach früher einmal eine Schokoladenfabrikation gehaust haben soll, was ich für möglich hielt, wegen des manchmal vanilleähnlichen Geruchs, der schwach, doch penetrant genug in seiner Andersartigkeit den üblichen Bohnerwachs-Pisse-Gestank durchdrang, wenn es sehr heiss wurde von der Sonne im Sommer oder schon seltener, im Winter von den gusseisernen Heizkörpern, deren abblätternde braune Rostschutzfarbpartikel ich eine Zeitlang sammelte, wie auch von den Fensterbänken die krepierten Fliegen, die ich, am liebsten während der Mathematikstunden, im Hinterhalt eines wackligen Lehrbücherturms mit Hilfe der Barthaar-Entfernungs-Pinzette meiner Mutter in ihre Bestandteile zerlegte, um sie anschliessend häufchenweise, die Körper zu den Körpern, die Köpfe zu den Köpfen, die Beine zu den Beinen, die Flügel zu den Flügeln, auf vier verschiedenfarbig bemalte Zigarilloskistchen der Sorte "Sprachlos" zu verteilen.