Melitta Breznik
Geboren 1961 in Kapfenberg, Österreich. Sie studierte Medizin in Innsbruck. Sie arbeitet als Leitende Ärztin und beim Aufbau einer psychosomatischen und psychoonkologischen Rehabilitation in Scuol. 1993 begann sie mit dem Schreiben und hat seither sechs Werke veröffentlicht. (2021)
Werke (Auswahl)
Mutter. Chronik eines Abschieds.
Luchterhand Literaturverlag, 2020
Figuren.
Luchterhand Literaturverlag, 1999
Nachtdienst. Eine Erzählung.
S. Fischer Verlag, 1995
Mutter. Chronik eines Abschieds
Luchterhand Literaturverlag, 2020
Im nüchternen Ton einer Chronistin erzählt Melitta Breznik von den letzten Wochen am Sterbebett ihrer Mutter. In ihre praktische Fürsorge mischt sich ihr Bestreben, der Mutter den Boden dafür zu bereiten, vom Leben Abschied zu nehmen. In der Rückschau der Tochter – mit der Doppelrolle, Tochter wie Ärztin – wird die Mutter zur lebendigen Handelnden: eine Zeremonie des Abschiednehmens, der man nachdenklich folgt, weil sie so einzigartig wie universal zugleich ist.
Die Veranstaltungen der 43. Solothurner Literaturtage fanden aufgrund der Corona-Pandemie hauptsächlich als Video- und Audio-Livestreams sowie Zoom-Veranstaltungen statt.
Aus: Melitta Breznik. Mutter. Chronik eines Abschieds. Luchterhand Literaturverlag, 2020
Als ich auf die Welt kam, so erzählte Mutter, war ich ein kleines, hässliches, untergewichtiges Etwas, umhüllt von einem bittersüssen Geruch, der von einer käsigen, schuppigen Schicht auf meinem Körper herrührte. Zwei Wochen hatte ich mir Zeit gelassen, sodass die Ärzte schon gemeint hatten, ich würde kaum lebend zur Welt kommen. «Mit einundvierzig wollte ich kein Kind mehr. Aber als ich Dich in meinen Armen hielt, war alles gut.»
Fr, 14.05.21, 13:00
Fr, 14.05.21, 17:00
Figuren
Luchterhand Literaturverlag, 1999
Aus: Melitta Breznik. Figuren. Luchterhand Literaturverlag, 1999
Licht, grelles Licht, Grau, eine Betonwand, man kann den Abdruck, das Muster der Schalungsbretter noch erkennen. Weit weg hörst du ein Blubbern, Blasen im Wasser, ein sattes Geräusch, grobblasig, dann siehst du die Umrisse eines aluminiumgerahmten Fensters, eine Schattenlinie an der kaltglatten Hausmauer gegenüber, die Sonne scheint, muss scheinen, warum sonst der Schatten, du kannst den Rand des Fensters nicht ausmachen, über der Mauer der Himmel, es muss der Himmel sein, das hier ist die Erde. Du liegst mit nach hinten überstrecktem Kopf da, versuchst dich zu orientieren. Ein Piepston, regelmässig, dann langsamer werdend, im Hintergrund ein tieferer Ton, im Takt, wie der Takt des Weckers auf deinem Nachttisch, auf den du immer gelauscht hast, mitten in der Nacht, wenn die Sekunden länger waren als sonst, weil du nicht einschlafen konntest. Dein Hals schmerzt, dein Nacken, es ist jemand anderer im Zimmer, du hörst schnarchenden Atem, wendest den Kopf, das Fenster hinter deinem Bett scheint über die ganze Wandbreite zu reichen, dein suchender Blick erreicht die Ecke, dort ein mit weissem Plastikband verkleidetes Steigrohr, an der Decke Neonlampen, hell erleuchtet, das Rohr geht am unteren Rand des Bildes in ein Metallgestell über, du siehst alles schneller, als du begreifen kannst, lange tiefe Dunkelheit. Dann wieder das Metallgestell, Kopfende eines Bettes, du siehst die Knick-stelle der Metallstange, daran befestigt die mit Kunststoff überzogene Halterung für die Hände, drehst den Kopf zurück und entdeckst über dir eine weitere Stange, es hängt keine Halterung daran, sie haben dich richtig eingeschätzt, du könntest sie nicht einmal benützen…
So, 04.06.00, 13:30
Nachtdienst. Eine Erzählung
S. Fischer Verlag, 1995
Aus: Melitta Breznik. Nachtdienst. Eine Erzählung. S. Fischer Verlag, 1995
An den weissen verfliesten Wänden der Obduktionskammer bricht sich das Geräusch des aus der Brause kommenden Wasserstrahls, der vom Gehilfen in schnellen kurzen Schwüngen über dem blutverschmierten Korkbrett hin- und herbewegt wird, wo zuvor die Organe des alten eingefallenen Körpers seziert wurden. Der geöffnete Brustkorb ist gefüllt mit einem Durcheinander von Innerei-Resten, das Hirn, gelblich zerfliessend, neben dem muskatnussfarbenen Halbmond der Leber. Ich habe dem Obduzenten die Daten des Patienten mitgeteilt, die vermutete Todesursache. Mit knappen Bemerkungen über jedes inspizierte Organ zieht er sich dir viel zu lange Fleischerschürze über den Kopf, streift die bräunlich verkrusteten Gummihandschuhe ab, ordnet pedantisch das Besteck, Fleischermesser in allen Grössen Scheren in mehreren Variationen, Schöpflöffel, zwei an der Zahl, ein mittelgrosser Fuchsschwanz, die handliche kleine Kreissäge für die Schädeleröffnung, Sonden jeder Länge, Hammer und Stemmeisen. Man muss genügend Abstand nehmen, um nicht an den Alten aus Abteilung A mit seinem Schmerz denken zu müssen, hier gilt die Aufmerksamkeit einzig und allein der Kunst des Zerlegens, nach Schule, in ästhetischer Manier, mit verschiedensten Schnittechniken, nach altösterreichischen Medizingrössen benannt. Todesursache Herzversagen, Grundleiden schwere dekompensierte Leberzirrhose mit Stauungsorganen und Oesophagusvarizen, fortgeschrittene Arteriosklerose.