Patrick Kokontis
Entgleisungen
Ammann Verlag, 2001
Aus: Patrick Kokontis. Entgleisungen. Ammann Verlag, 2001
Pavlos hat in jener schicksalsträchtigen Nacht sämtliche Fähigkeit zur Illusion, die wir als trostbringende Ausrede in unangenehmen Lebenssituationen stets bereithalten, gekostet. Wieder einmal. Es ist eine Plage, die wie eine schlecht ausgeheilte Erkältung immer wieder anschwillt, ankriecht. Wir haben Illusionen, damit wir sie verlieren können. Das ist ihr einziger, geheiligter Zweck. Der Heilsaft ist das Leben.
Sein altes Leben, das er nicht wirklich zu leben verstanden hatte, hatte sich in dieser Nacht verflüchtigt. Nein. Es wurde abgehackt wie die Hand eines Verbrechers. Und als die ersten milden Strahlen den aufsteigenden Tag durch das Fenster verkündeten, war das Gestern bereits so fern wie eine paralysierte Erinnerung, deren einziges Zeichen ein Phantomschmerz war, der den Druck auf seine verletzte Seele nicht mehr erhöhte. Als er dann bei Tagesanbruch völlig verwirrt und verschreckt erwachte, in Zeitlupe und unter grossen Schwierigkeiten die nötigsten Utensilien für den Spitaleintritt zusammengeklaubt und in einen Plastiksack gesteckt hatte, trat er beim Verlassen des Hauses aus seinem alten in ein neues Leben. Als die Tür hinter ihm zuschnappte, hatten sämtliche Geräusche, sämtliche Farben und alle menschlichen Gestalten, alle Bewegungen eine andere, neue Dimension, wie wenn er aus einem von aller bisheriger Erfahrung abgetrennten Blickwinkel die Welt zwar sehen, aber nicht mehr greifen konnte.
Wie ein unsichtbarer Geist wandelte er unter den Menschen, von ihnen völlig unbehelligt, als könnte er durch sie hindurchgehen, Richtung Notfall.