Peter Weber
Sa, 19.05.07, 10:00
Bahnhofsprosa
Suhrkamp Verlag, 2002
Aus: Peter Weber. Bahnhofsprosa. Suhrkamp Verlag, 2002
Die Halle
Ich sitze in der Bahnhofshalle im üppig aufwachsenden Gerede, das zum Gebrabbel wird, die Decke entlang ufert. Wieder und wieder hatte ich festgestellt, dass es im Hauptbahnhof Orte gibt, an denen das Gerede aufwächst wie in der Sixtinischen Kapelle, wo es ein einmaliges Gerede gibt, zusammengesetzt aus Sprachen aller Welt. Laute der unterschiedlichsten Formung verbinden sich zu einem Brei, der Blasen treibt, steigt, als würde er hochgekocht werden von einem geheimen Feuer, bald an der Decke anschwappt, Wellen wirft, die zu Winden werden, die man Sprechwinde nennt. In diesen Sprechwinden, die stark variieren, bei hohem Anteil Deutschsprechender oder Englischsprechender zu Turbulenzen werden, bleibt einiges an Feuchtigkeit, teils des Atems, teils des Speichels wegen. Die Feuchtigkeit in den Sprechwinden ist Gift für die Farben der Fresken und wird ursächlich in Verbindung gebracht mit dem Gilb, der sich, von der Decke her, die Wände hinabgefressen hat. Sprechwinde sind dem Gilb günstige Nahrung, ja jemehr geredet wird in der Sixtinischen Kapelle, desto eifriger frisst er sich herab, als würde er sich nähren von den Staunlauten, den Steigerungsformen, den sich wiederholenden Ausrufen des Kaum-zu-Glaubens, die zur Decke geschickt werden.
Sa, 11.05.02, 22:00
Der Wettermacher
Suhrkamp Verlag, 1993
Aus: Peter Weber. Der Wettermacher. Suhrkamp Verlag, 1993
Eines Abends kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und läutete an der unteren Türe Sturm.
Schrill und übermütig betonte er das Herannahen des Frühlings und anderer Wunder, versetzte die ganze Wohnung in Erregung, blieb endlos am Drücker, wollte ein neues Zeitalter einläuten.
Ich war betroffen.
Persönlich.
Stechendes Geklingel traf mich am Nerv, belebte Zitteraale in meinem Rückgrat, Zitteraale wanderten mir ins Ohr, schlängelten sich durch Gehörgänge, Stromstösse durchzucken mich.
Glocken begannen zu sprechen in meinen Ohren, ich sah Kirchtürme, Friedhöfe, Götter, Wettergockel, böses Wetter sah ich aufziehen, Glocken trieben schwarzes Gewölk in die Enge, jäh regnete es Gefühle, Vergangenheit schlug sich in allen Farben nieder, die Bäche schwollen an, der Fluss stieg, eine Flut von Bildern und Klangen ergoss sich über Erinnerungsstätten, Erinnerungsstapel kippten, Kindheit überströmte mich, ich ertrank in Erinnerung, versuchte Meere zu beschwichtigen, gebot dem Sturm Einhalt, riss Wolken auseinander, schmiss mit Gedanken verzweifelt um mich.
Erst als das Geläute nachliess, legte sich der Sturm.
Fr, 17.05.96, 16:00
Der Wettermacher
Suhrkamp Verlag, 1993
Aus: Peter Weber. Der Wettermacher. Suhrkamp Verlag, 1993
Eines Abends kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und läutete an der unteren Türe Sturm.
Schrill und übermütig betonte er das Herannahen des Frühlings und anderer Wunder, versetzte die ganze Wohnung in Erregung, blieb endlos am Drücker, wollte ein neues Zeitalter einläuten.
Ich war betroffen.
Persönlich.
Stechendes Geklingel traf mich am Nerv, belebte Zitteraale in meinem Rückgrat, Zitteraale wanderten mir ins Ohr, schlängelten sich durch Gehörgänge, Stromstösse durchzucken mich.
Glocken begannen zu sprechen in meinen Ohren, ich sah Kirchtürme, Friedhöfe, Götter, Wettergockel, böses Wetter sah ich aufziehen, Glocken trieben schwarzes Gewölk in die Enge, jäh regnete es Gefühle, Vergangenheit schlug sich in allen Farben nieder, die Bäche schwollen an, der Fluss stieg, eine Flut von Bildern und Klangen ergoss sich über Erinnerungsstätten, Erinnerungsstapel kippten, Kindheit überströmte mich, ich ertrank in Erinnerung, versuchte Meere zu beschwichtigen, gebot dem Sturm Einhalt, riss Wolken auseinander, schmiss mit Gedanken verzweifelt um mich.
Erst als das Geläute nachliess, legte sich der Sturm.