Rudolf Bussmann

Geboren 1947 in Olten/Schweiz, Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Studienaufenthalte in Paris und Berlin. Promotion mit einer literatursoziologisch ausgerichteten Monographie über den expressionistischen Dramatiker Georg Kaiser. Lebt in Basel.
(2015)
Werke (Auswahl)
Popcorn.
Waldgut Verlag & Atelier Bodoni, 2013
Im Stimmenhaus..
Waldgut Verlag & Atelier Bodoni, 2008
Das 25-Stundenbuch. Aphorismen und Bagatellen.
Waldgut Verlag & Atelier Bodoni, 2006
Ein Duell.
2006
Die Rückseite des Lichts.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1997
Der Flötenspieler.
Luchterhand Literaturverlag, 1991
Das Buch Orpheus (Romanmanuskript).
Fr, 30.05.14, 16:00
Ein Duell
2006
Aus: Rudolf Bussmann. Ein Duell. 2006
Und weil ich gerade meine erste Fahrt mit der Ostberliner U-Bahn hinter mir hatte, beschrieb ich diese Fahrt. Der Wagen sei mässig besetzt gewesen, einige Leute hätten halblaut miteinander gesprochen, die meisten vor sich hin gestarrt. Auf einmal seien die Gespräche verstummt, die Sitzenden und Stehenden in der Nackenpartie wie unter einer plötzlichen Lähmung erstarrt. «Eine Kubanerin, mir gegenüber zwischen zwei Arbeitern sitzend, hatte ihre Bluse aufgeknöpft und gab ihrem Säugling die Brust. Niemand blickte zu ihr hin, obwohl die Lutschgeräusche den monotonen Schienenschlag zeitweise übertönten. Das Baby grunzte leise während des Saugens, bis der mütterliche Lustzapfen seinen Lippen entglitt und es einen lauten Seufzer hören liess, um anschliessend mit sehnsüchtigem Schmatzen und Schnalzen erneut nach ihm zu suchen. Die feierabendmüden Gesichter verzogen sich mit keiner Falte und wenn, dann mit dem Ausdruck von Missbilligung, doch war da und dort, vor allem bei Frauen, jüngeren und älteren, ein Augenschmunzeln zu sehen. Über mehrere Stationen verliess niemand den Wagen, bis dann, als die Kubanerin ihre Bluse zuknöpfte und der Säugling mit einer Lache Muttermilch auf seiner kleinen Brust einschlummerte, fast alle gleichzeitig hinaus eilten − und dass die Leute das Aussteigen verpasst hatten, war das eigentlich Berührende an dieser ansonsten unauffälligen Begebenheit.»
Sa, 19.05.07, 15:00
Die Rückseite des Lichts
Verlag Nagel & Kimche AG, 1997
Aus: Rudolf Bussmann. Die Rückseite des Lichts. Verlag Nagel & Kimche AG, 1997
Mein Lieblingsplatz ist das Fenster zum Schlaftrakt, dessen gelbliche Fassade sich in der Wärme des milden Herbsttags zu dehnen scheint und mit ihren Unebenheiten an eine Dünenlandschaft erinnert. Das schräg einfallende Licht lässt einen Fensterflügel, der sich im Wind bewegt, aufblitzen wie die Klinge eines Dolches; im abgeblätterten Verputz unter dem Sims lauert ein Schatten, über den weg, einer Karawane gleich, quer durch die helle Wand majestätisch aufrechte Gestalten reiten. Da - nochmals blitzt die Klinge, der Schatten schnellt hoch, der Dolch fährt einer Gestalt durch die Brust, das Fenster schlägt zu, ein Schrei würgt mich in der Kehle. Die Stirn ans Querholz gepresst, warte ich darauf, dass die Gestalt vom Rücken ihres Reittiers gleitet und leblos auf den Wüstenboden schlägt. Doch es geschieht nichts. Die Kamele ziehen unbeirrt wie auf dem Tarockblatt durch die Weite, auf dem immer gleichen Weg zum immer gleichen Ziel im immer gleichen Abstand der hohen Fenster. Es riecht nach gedünsteter Zwiebel, im Dach knacken die Holzbalken, vom Türmchen der Kapelle schlägt die Mittagsstunde. Der ausklingende Ton bleibt in der Luft stehen wie die Stimme eines Muezzins, die aus einer fernen Welt herüberweht, um hier im Hof mit letztem Seufzen aufzusetzen und vor meiner lauschenden Gestalt zu sterben.
Fr, 09.05.97, 11:00
Das Buch Orpheus (Romanmanuskript)
Aus: Rudolf Bussmann. Das Buch Orpheus (Romanmanuskript).
Ueberall Flämmchen. Auf den Vertragsentwürfen, auf der Glatze von Vizedirektor Lethen, auf der Armbanduhr. Die andern im Büro, die ich, verunsichert, fragte, wollten nichts wahrnehmen. Kurz vor Feierabend tauchte Herr Grau bei mir auf. Er flüsterte, vor etlichen Jahren habe er ebenfalls Flämmchen gesehen. Er sei deswegen zum Augenarzt gegangen, der ihm eine Brille verpasst habe. Die Flämmchen seien aber stets wieder erschienen, so dass ihn der Augenarzt zu einem Nervenspezialisten geschickt, welcher ihm wiederum einen Psychiater angegeben habe, zu dem er selbstverständlich nicht gegangen sei. Ein Bekannter habe ihm schliesslich angeraten, Rüeblisaft zu trinken. Seit er Rüeblisaft trinke in den nüchternen Magen, dreimal täglich vor den Mahlzeiten, gebe es keine Flämmchen mehr. Vorbeugend nehme er auch Kartoffelsaft und Randensaft, er fühle sich wie auf dem Land. Grau war gekommen, um mir die Konzentrate, deren Markennamen er auf einen Zettel geschrieben hatte, ans Herz zu legen, insonderheit Rüeblisaft, der das einzig richtige Mittel gegen die Flämmchen sei. Ich dankte ihm und meldete mich bei einem Fussarzt an.