Tschingis Aitmatow
Abschied von Gülsary
Unionsverlag, 1992
Aus: Tschingis Aitmatow. Abschied von Gülsary. Unionsverlag, 1992
Bilingualismus -
Schiene für die Lokomotive der Sprachen
Es geht hier um das Schicksal der nationalen Kulturen und Sprachen der Gegenwart. Zuallererst betrifft dies die Frage der kleinen Völker der Welt, denn ohne eigene Sprache kann sich auch kein Selbstwertgefühl entwickeln. Die ist nicht nur das wichtigste Element der Nationalkultur, sie ist zugleich das Mittel ihrer Entwicklung. Sie wurde vom Genius des Volkes gebildet und ist etwas Einmaliges, ihr Verschwinden führt zu grossen Verlusten.
Sprachen können verschwinden, manche von ihnen sind bereits verschwunden, aber sie können nicht neu entstehen. Die Epoche, in der Sprachen entstanden, ist unwiderruflich vorbei. Man muss jene Sprachen schonend behandeln, die es gibt, sie sind Allgemeingut der Menschheit. Die Welt lebt in einem Sprachenkosmos. Die Sprachökologie, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet hat, ist genau so komplex und zerbrechlich, wie das Ökosystem der Natur.
(übersetzt von Regula Heusser-Markun)