Katrin Furler

2012

der wohnungssucher

von Katrin Furler

er steht draussen. er steht vor der haustür, nachdem er wieder eine wohnung gesehen hat, die nicht in frage kommt. er will da weg, aber er weiss nicht wohin, nach ein paar schritten bleibt er stehen. da, wo die häuserreihe am dorfrand endet. er steht unschlüssig am strassenrand, die hände in den taschen vergraben, er fühlt dort den zerknitterten zettel mit den adressen, die er wie jeden samstag seit wochen aus der zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt hat, so, dass man einen kommentar dazuschreiben könnte. er hat aber noch nichts geschrieben, seit wochen nicht, es kommt nichts in frage.
es ist kühl, ein spätnachmittag ende januar, zwielicht, nasskalt, kein frost, aber auch nicht mild, etwas dazwischen. schneereste liegen in den rinnsteinen und am feldrand, schwärzlich verfärbt an den rändern.
trauerränder denkt er und verbietet sich sofort, solche gedanken zu denken, das ist sentimental und unpassend: er sucht eine wohnung, weiter nichts, es wird sich eine finden, keine frage. höchstens eine frage der zeit. eine frage der geduld und der beharrlichkeit.
er zieht sich die mütze tiefer über die ohren und blickt zu seinem hund hinunter. der will nicht herumschnüffeln wie sonst, sondern drückt sich an seine beine. er kennt sich hier nicht aus, er will nichts neues erobern, er will den vertrauten geruch atmen und die vertraute hand auf seinem kopf fühlen. Der mann murmelt etwas und fährt ihm mit der hand über den kopf, der hund presst seine schnauze gegen die hand.
er steht da am strassenrand, während ein paar alterslose frauen vorbeigehen, vermummt, eilig, ohne zu grüssen, mit ihren tüten und zwei halbwüchsige mädchen in hautengen jeans. er sieht sie nicht, er will sie nicht sehen, er will sie nicht kennen, er will mit niemand sprechen.
er will nachhause.
die dämmerung nimmt zu, einzelne lichter gehen an, die düsteren fassaden der reizlosen häuser verschwimmen, die kahlen äste werden schwarze schemen. fenster leuchten auf, dahinter bewegte schatten, vorhänge werden zugezogen. er muß unwillkürlich an seine eigene lampe denken, die leselampe neben dem korbstuhl mit der hohen lehne und dem alten schaffell drauf. davon fallen hie und da kleine wollflocken ab, mit denen der hund gerne spielt.
in diesem stuhl sitzt er, wenn er liest, unter der lampe, die füsse ein wenig hochgestellt auf dem fussbänkchen, das buch auf den knieen. der hund liegt dann auf seiner matte neben der tür, so, dass sie sich sehen können, ohne sich bewegen zu müssen. sie bleiben oft stundenlang so, bis der hund rausgehen muss oder bis sie hunger haben. oder bis der lärm unter ihnen so anschwillt, dass sie es nicht aushalten können und rausgehen.
er sehnt sich danach, seine haustür aufzuschliessen, reinzugehen und sie von innen zu schliessen, langsam, nachdrücklich, fast geniesserisch, den schlüssel umzudrehen, innen stecken zu lassen und dem schaukeln des schlüsselbundes zuzuschauen, bis er zu ruhe kommt. er liebt diesen moment des nachhausekommens, des eintretens in die stille, in das eigene, das vertraute. da ist nur, was er dort haben will, das bedrohliche ist draussen, ausgesperrt.
da sind seine bücher, die vor allem. die wände sind ganz und gar eingenommen von den hölzernen büchergestellen, die bis zur decke reichen. er hat sie so eingepasst, dass der knappe raum gut ausgenutzt werden kann. die bücher sind in der stube, im gang, im schlafzimmer, sogar in der küche. er kennt sie alle, die da stehen, rücken an rücken. sie schweigen. und sie reden zu ihm.
ein scharfer windstoss reisst ihn aus seinen gedanken und treibt ihm kalte tropfen ins gesicht. der hund schüttelt sich, er friert leicht, seit er alt geworden ist. sie müssen noch eine wohnung ansehen. er versucht auf dem zettel die adresse zu lesen, aber es ist schon zu dunkel, es gibt hier keine laternen. er beschliesst deshalb, in der einzigen kneipe, die er im ort gesehen hat, ein bier zu trinken, sich aufzuwärmen und dann weiterzugehen.
als er eintritt in den dichten dunst aus rauch und bier, in das stimmengewirr und gejohle der männer am stammtisch schreckt er einen moment zurück und zögert.
sofort holt es ihn ein: er sucht eine neue wohnung, weil er es in seiner alten nicht mehr aushalten kann. er kann die menschen, die unter ihm eingezogen sind, nachdem die alte bäuerin gestorben ist, nicht aushalten, ihr geschrei, ihre harten schritte, das rücken der möbel auf dem steinboden, ihren tonfall, ihre grobheiten, ihre dummheit und rücksichtslosigkeit. sie zerstören die stille und den fragilen frieden, den er gefunden hat und ohne den er nicht leben kann.
er kann sich nicht wehren, niemand kann ihn schützen vor den menschen, selbst die polizei nicht. es nützt nichts, sie zu rufen, es ist lächerlich.
die menschen bedrängen ihn, er mag nur ganz wenige, und er sucht sie selten auf. er ist unbarmherzig mit den meisten menschen, die er wahrnimmt, er sieht ihre armseligkeit und unzulänglichkeit unverhüllt, er erlaubt keine beschönigung, niemandem. er bestimmt die distanz und die intensität der berührung.
er lebt mit den büchern, deren leise stimmen erreichen ihn, die will er hören, die versteht er, die beherrscht er.
er steht unvermittelt auf und verlässt das lokal.der hund folgt ihm widerwillig. draussen ist es dunkler geworden und kühler, ihn fröstelt, er schlägt den jackenkragen hoch. bis zur nächsten adresse haben sie ein stück zu gehen.
unvorstellbar, ein zuhause zu finden, er muss sich zwingen, daran zu glauben. auch sein jetziges zuhause musste er sich erarbeiten, er lebt seit jahren da, seit der trennung von seiner zweiten frau.
damals musste er den verlust der liebe verschmerzen, ertragen. er musste sich selbst neu erfinden, allein mit dem hund. er liebt ihn, aber er redet nicht und er lacht nicht. er dachte damals, dass es kein zuhause geben könne ohne eine liebe drinnen.er erinnert sich, wie er damals oft auf dem kleinen balkon über den nach südosten abfallenden wiesen gesessen hatte und die landschaft und das leben um sich her betrachtet hatte. anfangs war es ein dumpfes, in sich versunkenes starren nach innen gewesen, allenfalls ein verlorener blick in die ferne hinter dem horizont. allmählich hatte sich dann eine stille aufmerksamkeit eingestellt, als ginge es ihn etwas an, was sich da unter ihm abspielte.
er sah die rinder auf der weide, die schweren, schwarzen körper auf der grünen bühne, gelenkt von einem geheimen plan, ein plumpes, eigenwilliges ballett, er verstand ihr muhen, unterschied das rufen nach futter von der unruhe vor dem gebären oder dem gewitter. er konnte bld aus den verschiedenen geräuschen auf dem hof die tageszeit ableiten. er begann ausschau zu halten nach den in grosser höhe ruhig kreisenden raubvögeln, die fernab der welt schwebend ihr dasein zu geniessen schienen, und ihn belustigten die auf dem scheunendach spielenden und kämpfenden krähen.
er wusste genau, um welche stunde abends der fuchs am rande des getreidefeldes links unterhalb der weide auftauchen und welchen weg er nehmen würde, fast erwartete er ihn. manchmal waren es zwei, und plötzlich waren noch zwei kleine da. den alten fuchs hatte er auch schon nachts im mondschein über den schnee laufen sehen, wenn er nicht schlafen konnte.
und dann der geruch nach stall und heu natürlich, der holzrauch, im sommer der staub des trockenen strohs beim dreschen, die leitern an den obstbäumen, das klappern der hufe am morgen...
er las all das wie ein liebgewordenes buch. da war eine ordnung und ruhe in diesen einfachen, immer wiederkehrenden dingen und vorgängen, die ihm wohl tat, die ihn trug. die kann er nicht mitnehmen. friedliche idylle - nein, nein, er verbietet sich den gedanken, er ist nicht sentimental, er darf nicht sentimental sein, er ist kühl und ruhig.
er sucht eine wohnung, er will seine ruhe, weiter nichts.
er geht schneller, der hund bleibt etwas zurück. noch eine querstrasse, dann müssten sie das haus erreicht haben. eins sieht wie das andere aus, ältere mehrfamilienhäuser, nicht hässlich, aber auch nicht schön, in der dunkelheit keine landschaft. man hätte früher am tag gehen müssen, denkt er, er hat die zeit vertrödelt mit zögern und grübeln.
eine kolonne klingelknöpfe, erleuchtet, der name da, erster stock, kein lift stand in der anzeige. er hatte den hund angekündigt, aber er weiss, dass die meisten leute keine tiere wollten, auch wenn sie scheinbar einwilligten. mehr denn je fühlt er sich dem hund verbunden, alt geworden, verletzlich wie ein kind, er würde nicht mehr lange treppen gehen können, und er ist zu schwer, um getragen zu werden. das schränkt ihn ein bei der wohnungssuche, aber es steht ausser frage, dass auf ihn rücksicht zu nehmen ist. es tut ihm auf eine trotzige art wohl, zu wissen, was er zu tun hat, er würde niemals kompromisse machen auf kosten des hundes. er wird ihn tragen.
sie stehen im zugigen eingang. er kann sich nicht entschliessen, zu läuten. er hat angst vor den abschätzigen blicken und vor dem herablassenden tonfall derer, die sich am längeren hebel wissen.
er will nicht in eine fremde wohnung gehen, alles das fremde sehen müssen, sich fremd fühlen müssen, immer dieselben phrasen abspulen müssen, sich in gedanken einnisten müssen in fremden zimmern. er will keine neue wohnung.
er will nachhause.
seit er allein lebt hat er begonnen, gegen die fremdheit und die einsamkeit gedichte auswendig zu lernen, inzwischen mehr als zweihundert. er repetiert sie regelmässig und trägt sie auf langen spaziergängen dem hund vor, ja, manchmal deklamiert er sie lauthals und lacht über das echo. er wählt sie sehr sorgfältig aus, diese texte, es ist ein ehre, in den handverlesenen kreis aufgenommen zu werden.
je länger je mehr kommen sie ihm vor wie nester, in denen er wohnt, in die er sich flüchtet, manchmal jedenfalls, oder wie höhlen, oder auch wie festungen. er schmiegt sich in gewisse zeilen und strophen ein, und je länger er sie kennt, desto mehr schmiegen auch sie sich an ihn. sie sind ihm durch die vielen wiederholungen so vertraut, als seien sie seine eigenen, es ist nicht wichtig, wer sie gemacht hat. er liebt ihre schönheit und ihre makellosigkeit, ihre wahrheit und ihre hintergründigkeit, in ihrer begleitung fühlt er sich stark und unangreifbar. und sie begleiten ihn immer.
aber die geborgenheit in den worten und sätzen kann ihn nicht schützen vor lärm und geschrei der menschen, im gegenteil, sie macht ihn empfindlich und fragil und wehrlos. sie macht ihn hellhörig und dünnhäutig, er fühlt sich leicht angegriffen und verletzt und hilflos und wütend. manchmal, wenn er von seinem lesestuhl aus den blick hebt und in den abend schaut, einer formulierung nachsinnend, dann versetzt ihn bereits das schlagen der autotüren im hof und das geräusch hastiger schritte auf dem platz in panik, sein atem beschleunigt sich, er wird unruhig,der hund spürt es und steht leise winselnd auf. er beginnt zu lauschen, verfolgt das geschehen im haus und bereits die ahnung dessen, was kommen könnte, macht es ihm unmöglich, ruhig weiterzulesen.
immernoch steht er vor der verschlossenen tür, sein blick gleitet über die klingelknöpfe und fasst den ins auge, den er drücken sollte. aber die bereits erhobene hand wird bleischwer. es gelingt ihm nicht, den knopf zu erreichen.
ihn überwältigt die plötzliche gewissheit, dass es unmöglich ist, ein zuhause zu finden. dass es völlig sinnlos ist, strassen abzulaufen, treppen zu steigen, fragen zu stellen, leere zimmer zu betrachten.
es gibt kein zuhause für ihn.
eben darum ist er ja auf der suche, weil es sein zuhause nicht gibt, er hat es ja schon längst verloren. er sucht etwas, das es nicht gibt. er sehnt sich nach etwas, das es nicht gibt. er träumt von etwas, das es nicht gibt.
er ist nicht auf suche.
er ist auf der flucht.
er weiss es, völlig unbezweifelbar. das ist kein gedicht, das ist die wahrheit. er spürt, wie etwas in ihm aufsteigt und ihm den atem nimmt, er muss sich gegen den türpfosten lehnen und die augen schliessen. der hund wird unruhig, kommt näher, presst seinen kopf an die herabhängende hand. "wohin denn ich?" - ein trost? ein hohn? es raubt ihm die besinnung. der refrain seiner flucht. der orgelpunkt seines lebens.
er versucht, sich aufzuraffen, reibt die kalten hände, drückt sie gegen die schläfen und stampft mit den füssen auf. er muss eine wohnung finden. er wird eine finden, keine frage, nur eine frage der zeit...
er drückt die klingel, er widersteht der hoffnung, es könnte niemand mehr da sein, weil es bereits viel zu spät ist. er hält den atem an und wartet. dann das summen des automatischen türöffners, neonlicht hinter der milchglasscheibe der haustür. er drückt die tür auf,die abgestandene luft eines ungelüfteten treppenhauses schlägt ihm entgegen. mechanisch putzt er die schmutzigen schuhe ab und tritt in den flur, gefolgt von dem hund. er zwingt sich, die treppe rasch hochzusteigen. der hund folgt ihm, bleibt zurück, stolpert auf den glatten stufen. stolpert? denkt er, sagt man das von hunden? er denkt oft an den hund in wörtern, die man für menschen braucht.
er wartet auf den hund, ohne ihm zu helfen. er will zeit gewinnen, bevor er oben steht vor der wohnungstür, deren öffnen ihn zwingen wird, in ein fremdes gesicht dinge zu sagen, die er vergessen hat, weil sie ihren sinn verloren haben. er starrt auf die tür, er fürchtet die schritte, die er gleich dahinter hören wird.
er sieht die klinke, abgegriffen, leicht herabhängend, wie gebeugt von der last der jahre. er sieht die unzähligen hände, die danach gegriffen haben, heisse, schmutzige, feuchte, abgearbeitete, kinderhände, alte, müde, klamme finger, böse und zärtliche, eilige, kräftige, schlaffe - soviele hände, soviele menschen, die versucht haben, hier einzutreten, eine ganze schlange, sie reicht bis in den flur, bis zur haustür, auf den vorplatz, auf die strasse, in die dunkelheit.
er weicht zurück, er kann die klinke nicht anfassen. wie wenig sich klinke von klinge unterscheidet. ihn schwindelt.
bevor die klinke von innen niedergedrückt wird dreht er sich um und hastet die treppe hinunter, zieht den hund am halsband mit sich ins freie.
er weiss, es ist lächerlich, aber draussen atmet er auf.
es ist noch kälter geworden, und es hat zu schneien begonnen, ganz fein mit gleichmässigen, kleinen, harten flocken. sie sticheln das gesicht. der hund friert. sie stehen auf der strasse in der dunkelheit, die jetzt ganz hell ist vom schnee. sie gehen nach rechts, an den letzten häusern vorbei, immer schneller, sie kommen auf's freie feld. der wind wirft ihnen den kalten schnee entgegen. sie laufen über den schnee, sie werden warm dabei, sie rennen, ausser atem, der hund läuft vor, schaut zurück, wartet, springt wieder voraus in die uferlose dunkelheit.
um sie sind nur noch schnee und kälte und nacht, diese grossen, einfachen, bewohnbaren dinge.
er ist zuhause.