Kerstin Kempker
2004
Vita minima
von Kerstin Kempker
„Wie geht es dir?“,
hat Susanne mich am Telefon gefragt.
„Hab noch nicht drüber nachgedacht“,
antworte ich auf die Frage, auf die ich keine zureichende Antwort kenne. Aber Denken hilft nicht, und wie soll ich es fühlen, was da gefragt
ist. Ich muss es sehen, begreifen, in Händen halten.
Bei einer Obduktion werden die Hohlräume des Körpers geöffnet, so dass
die inneren Organe untersucht werden können. Brustkorb und Bauchhöhle
werden durch einen vom Hals bis zum Schambereich verlaufenden Schnitt
eröffnet. Die Organe werden meist im Paket entnommen und ausserhalb des
Körpers untersucht. Nach der Obduktion werden in der Regel alle Organe
wieder in den Körper zurück gelegt und die eröffneten Körperhöhlen
zugenäht.
Fische habe ich gern seziert mit sauberem Bauchschnitt, Kopf ab, Schwanz ab, Bauch auf. Jetzt obduziere ich mich. Mache mich frei, lege mich auf den gut ausgeleuchteten Obduktionstisch, ziehe die Extremitäten gerade, rücke den Kopf in die Mittellage und verschaffe mir einen ersten
Überblick, direkte Inaugenscheinnahme.
Männlicher Körper, nach Draufsicht komplett, Alter fünfzig plus minus
fünf, Länge (ich messe vom Scheitel bis zur Fusssohle) einsachtzig,
Gewicht (ich betätige die Hebel, die seitlich am Tisch angebracht sind
und denen einer Babywaage gleichen) fünfundneunzig, Gebiss (ich
überstrecke den Kopf, fahre mir mit beiden Zeigefingern in die
Mundwinkel und öffne mit einem Ruck die Kiefergelenke) saniert,
Oberkiefer beidseitig Brücke mit Goldinlay, Keramikfüllungen im
Eckzahnbereich, Unterkiefer links Brücke mit Goldinlay, beginnende
Parodontose im Frontbereich, (ich ziehe meine behandschuhten Hände aus
dem Kiefer zurück und richte mich auf) Kopfhaar dunkel, glatt, schütter, Körperbehaarung kräftig, Muskelbildung dezent, Hautfarbe blass, keine
grösseren Narben, Augen weit geöffnet, Farbe grün.
Nun genehmige ich mir eine kleine Pause, entferne mich vom
Obduktionstisch, ziehe die Plastikhandschuhe aus, wasche mir gründlich
die Hände, setze mich auf den grauen Plastikschalenstuhl, hole die
Vesper aus meiner Aktentasche, breite sie auf dem Resopaltischchen aus
und wickele die Brote aus dem Fettpapier, während ich zu mir auf dem
Obduktionstisch hinüberblicke und aus dieser neuen Perspektive eine
interessante Seitenansicht gewinne. Die höchste Erhebung meines Körpers
ist der Bauch. Ich stelle mir meinen Querschnitt vor, beisse in meine
Wurststulle, nehme einen Schluck Milchkaffee direkt aus der Thermoskanne und denke ein Wurstbrot lang über meine Ernährungsgewohnheiten nach.
Rauche eine, stört ja keinen, wir sind allein, ich hier und er dort, der ich ist und dessen Lunge ich schon lange sehen möchte. Vielleicht
befreit ihr Anblick mich von diesem Übel.
Mors in tabula, Tod auf dem Operationstisch, den will ich vermeiden,
wenn ich mir einen Einblick verschaffe, mein Innerstes im Paket
entnehme. Ich werde es behutsam tun, keine Verbindung kappen. Vielleicht muss ich nur leichte Verschiebungen vornehmen, mit diesen langen
brennenden Stahlzangen der Chirurgen mein Herz anheben, das aufgeregt
puckert, um darunter einen Blick auf den Zustand meiner Lunge zu werfen. Hinter den Darmschlingen werde ich nach meiner Milz fahnden, deren
gnadenlose Inspektion durch eine Ärztin ich schon einmal angeschnallt
und in einem fort vor Schmerz und Empörung brüllend beobachten konnte.
Diesmal ist die Perspektive eine andere. Ich werde mein aufmerksamer
Chirurg sein und auf mich auf diesem Tisch herabblicken, auf mich im
Koma, kein Brüllen und Zappeln wird mich ablenken, wenn ich meine Organe inspiziere.
Wegen der strammen Fesseln und dem punktgenau in meinen Bauch zielenden
Licht habe ich nur das schattige strenge Profil der Ärztin in
Erinnerung, den Schweiss, der aus den Poren ihrer rechten Schläfe trat,
vielleicht war sie Anfängerin, Ärztin im Praktikum, ich ihr erstes
Objekt. Man hatte sie aus dem Bereitschaftsschlaf gerissen, zu dem
Unfall gerufen, der Milz, die auf Risse zu prüfen war und die so schwer
zu finden war in all den blutigen Innereien.
Damals hatte ich kein Mitleid mit ihr, meiner Folterin. Ich dachte nur,
warum schicken sie mir eine Frau? Einen Mann konnte ich mir nicht so
grausam vorstellen. Er würde mit mir gesprochen haben, wenigstens kurz,
er würde mich angeschaut haben, wenn er die Instrumente wechselte. Er
hätte uns eine Pause gegönnt, einen Schluck Wasser.
Sie aber kämpfte sich von Stunde zu Stunde dringlicher mit ihren
brennenden Messern in die Tiefe meiner Bauchhöhle, stocherte wild und
unwirsch und doch konzentriert, höchst konzentriert auf ihr Tun, diese
Tat, in dem Feuer, das in meinen Schreien loderte.
Sie rächt sich an mir, habe ich schon damals gewusst, an diesem
vermeintlichen Selbstmörder, der nicht tief genug sprang, der die Schuld trug und nicht betäubt werden durfte, weil er unter Schock stand, weil
kein Anästhesist frei war oder weil er den wahren Schmerz kennen lernen
sollte, der ihn ein für alle mal abbringen würde von seinen Sperenzchen.
Als sie ihre Werkzeuge nach einer Ewigkeit endlich aus mir zurückzog,
wortlos ging und der junge Pfleger, der alles mit angesehen hatte, die
Fesseln löste, mich auf eine Bahre legte und in ein Zimmer schob, lebte
ich noch. Ich war ausgedörrt, verbrannt und hörte mich um ein kaltes,
ein eiskaltes Getränk flehen.
Mein Vorrat an Schmerz ist aufgebraucht seitdem. Ich hasse die Ärztin
nicht. Sie hat den Schmerz für mich erledigt. Vita minima, ich trete zu
mir an den Tisch, schaue auf diesen weissen weichen Körper, den nichts
mehr erschreckt.
„Wie geht es dir?“,
fragt sie noch einmal, meine Susanne. Wir sind ein Paar, und deshalb
sagt ihre Frage auch, dass sie mich sehen will. Sie will mich aufsuchen, sich zu mir legen.
„Es ist vorbei“,
antworte ich. Mehr kann ich nicht sagen. Ich weiss, dass sie es falsch
verstehen muss. Sie legt den Hörer auf. Ich strecke mich auf meinem
weissen Laken.