Sunil Mann
2006
Tot stellen
von Sunil Mann
Sara lacht. Sie wirft den
Kopf in den Nacken, die goldblonde Lockenmähne fliegt durch die Luft,
sie zeigt die kleinen, beinahe quadratischen Zähne, schliesst ihre
Augen, nur um sie sogleich wieder aufzuschlagen, meerblaues Glitzern,
verführerisch, unwiderstehlich. Man hält den Atem an. Ihre Hand streicht wie zufällig über den schlanken Hals, wandert zum Decolleté, verharrt
scheinbar unschlüssig. Sie beisst sich auf die Unterlippe,ein Blick in
die Runde, elektrisierend, als schlüge ein Blitz ein,
sechsMänneraugenpaare applaudieren stumm und begehrend. Sara hat ihr
Publikumfest im Griff.
Sara lacht. Ein helles, leichtes Lachen, wie Glöckchen an einem
Schlittenzur Weihnachtszeit, nicht zu laut und doch klar im ganzen Lokal vernehmbar, sie weiss, wie es funktioniert, es ist perfekt.
Sara tanzt. Sie wiegt sich in den Hüften, breitet die Arme aus, dreht
sich um sich selber, wie in Trance, streckt jetzt die Arme gegen die
Decke, als wollte sie hoch gehoben werden. Dann schliesst sie die Augen, lässt sich von der Musik weg tragen an einen geheimnisvollen Ort. Man
könnte sagen, die Bluse sei ein wenig zu eng, der Mini ein wenig zu kurz und die Lippenzu rot. Man könnte, doch man tut es nicht. Sara würde
einem ins Gesicht lachen und sagen, man solle doch einfach die Klappe
halten. Niemand weissdas so gut wie ich.
Sara tanzt. Man bildet einen Kreis um sie, sie ist das Zentrum des
Geschehens, so will sie es, und ich werde abgedrängt, stehe abseits mit
all den anderen gesichtslosen Wesen, die niemand beachtet, die irgendwie nicht hierher passen wollen. Keiner sieht mich jetzt noch an, jetzt da
Sara tanzt, mitten auf der Tanzfläche, umringt von schönen Menschen. So
ist es immer. Ohne Sara bin ich nichts.
Abends sehen wir gemeinsam fern, ich zusammen gerollt auf dem Sofa, die
Knie an den Körper gezogen, das volle Weinglas in Griffweite. Lasse die
bunten Bilder auf mich niederprasseln, lasse sie die Leere und das
Schweigen inmir ausfüllen. Sie sind nur ein vager Entwurf von dem, was
das Leben sein könnte, doch ich bin unfähig, wirklich etwas wahr zu
nehmen, etwas umzusetzen, benebelt vom Alkohol, es interessiert mich
nicht, nicht mehr, ichstelle mich tot, lange schon.
Sara ist zuständig für das Leben. Sie sitzt aufrecht neben mir, den
Blick aufmerksam auf den Bildschirm geheftet, ich kann es förmlich
spüren,wie sie sich in Gedanken Notizen macht, sich Gesten einprägt,
Gesichtsausdrücke, ganze Textpassagen. Und später steht sie dann vor dem Spiegelund übt. Übt, so zu lachen wie die Frauen in den
Hollywoodfilmen, übt, die passenden Sätze in der richtigen Situation zu
sagen, übt, die Beine aufreizend langsam übereinander zu schlagen, so
dass man erkennen kann, welche Farbe ihr Slip hat. Falls sie einen
trägt. Sie lässt nicht locker, sie übt verbissen, oft stundenlang, bis
es perfekt sitzt.
"Ich habe Hunger nach dem Leben, und ich esse mich niemals satt", sagt
sie manchmal, und man staunt über ihren Scharfsinn, doch ich weiss, dass sie das geklaut hat, Peter Maffay, aus dem Album "Sonne in der Nacht",
ich habe es damals zum Geburtstag geschenkt bekommen. Saras
Persönlichkeit ist eine Zitatensammlung, nichts an ihr ist authentisch,
nichts ist echt.
Ich würde Sara gerne los werden. Manchmal, wenn sie schläft, wenn ich
mich für kurze Zeit beinahe frei fühlen kann, stehe ich auf dem Balkon,
orangefarbene Sonnenstoren, vierter Stock, Innenhof, eine graue
Wohnsiedlung am Stadtrand, und blicke hinüber. Zu ihm, wie er so
dasteht, lässig eine Zigarette anzündet und den Rauch Richtung
Agglomerationshimmel ausstösst. Ich weiche seinem Blick aus, wenn er
herüber guckt, und doch weiss ich, dass er weiss, dass ich ihn
beobachte. Ich habe seinen Namen nicht heraus gefunden, auf seinem
Klingelschild steht nur M. Costa. Ich habe ihn Manuel getauft, Manuel
klingt nach Urlaub und Romantik, nach Meer und Spanien. Manchmal
begegnen wir uns im nahen Supermarkt, "Frau Nachbarin", sagt er dann und tippt sich dabei an eine imaginäre Hutkrempe. Es klingt stets ein wenig ironisch, doch seine dunklen Augen blicken ernst. Ich würde ihn gerne
einladen, zu einem Kaffee zumindest, do
ch ich weiss, dass Sara dabei sein wollen würde, sie würde ihre langen
Beine übereinanderschlagen und perlend lachen, den Kopf in den Nacken
werfen und ihre Lockenmähnedurch die Luft wirbeln lassen, Sara wäre wie
immer, vulgär und laut, sie würde mich in den Hintergrund drängen, sie
würde mit Manuel vögeln wollen, Sara wäre unmöglich.
Wenn ich abends in der Badewanne liege, kommt es vor, dass ich mit dem
Zeigefinger dem linken Arm entlang fahre, den Schaum zur Seite schiebe
und sanft über die Blutbahnen streiche, die grünblau unter der blassen,
seidig zarten Haut schimmern; ich folge ihrem verästelten Lauf vom
Ellbogen bis zum Handgelenk, bis zur schmalsten, verletzlichsten Stelle, verharre dort einen Augenblick und fühle die Knorpeln, die Sehnen, das
stete Pochen unter der Haut. Mein Puls, denke ich dann, der eindeutige
Beweis, dass ich am Leben bin. Und manchmal schiesst dann der Gedanke an die Rasierklingen, dieim Badezimmerschrank liegen, durch meinen Kopf,
blitzschnell und tödlichwie ein Hai, der mit offenem Schlund und
messerscharfen Zähnen aus der Tiefe des Meeres herauf stösst. Doch ich
bin darauf vorbereitet, ich weiss, dass ich mich dann ruhig verhalten
muss, nicht zappeln, nicht schreien, nicht panisch um mich schlagen,
einfach still und reglos verharren, abw
arten, bis sich die Gefahr verzogen hat. Tot stellen. Nur so hat man eine Chancezu überleben.
Vater hat meiner Mutter nie einen Vorwurf gemacht. Man sagt, er hätte
sich nach meiner Geburt eine Zigarette angesteckt und dann lange zum
Fenster hinaus geschaut, die bangen Fragen meiner Mutter ignorierend,
ihr unsicheresLächeln übersehend. "Alex soll es heissen", habe er
schliesslich gesagt, und meine Mutter wagte nicht zu widersprechen.
Vater hat meiner Mutter nie einen Vorwurf gemacht. Doch ohne Liebe und
Aufmerksamkeit verdorrte sie unter seinem ungeduldigen Blick wie eine
vernachlässigte Zimmerpflanze, sie starb früh, ohne ihm den gewünschten
Sohn zu gebären. Manchmal fällt mir nicht mehr ein, wie sie ausgesehen
hat.
Vater war wütend als sie starb und ich zwölf. Alles wurde anders.
Tagsüber versuchte ich, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, und nachts kam er in mein Zimmer und liess seine Wut an mir aus.
Doch dann war plötzlich Sara da. Sara, der nichts etwas ausmachte, Sara, die gleichgültig alles mit sich machen liess,
Sara, die blieb, um sich in meinem Leben breit zu machen. Schon bald war ich nur noch ein gesichtslose Etwas, das am Rand des Lebens kauerte,
während sich Sara im Mittelpunkt sonnte.
Ich denke oft an Manuel, nachts lasse ich meine Hand über meinen Köper
gleiten, streichle meine Brustwarzen, berühre mich zwischen den Beinen,
ich muss acht geben, dass Sara nichts davon bemerkt, Sara bemerkt alles. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel im Badezimmer und schminke mich, ich hab das früher nie getan. Ich war immer die Unscheinbare, diejenige im
SchattenSaras, ich brauchte kein Make Up, keine schönen Kleider, keinen
Sex, es wäre Verschwendung gewesen. Hat Sara gesagt.
Ich trage vorsichtig Wangenrouge auf, ziehe einen feinen, schwarzen
Strich unter meine Augen, sie werden dadurch grösser, ausdrucksvoller,
schöne Augen, denke ich, blassblauer Lidschatten, rosafarbener
Lippenstift, nur nichts Grelles, keine satten Farben, nur nicht wie
Sara, bloss nicht wie Sara. Ich betrachte mich, ich sehe nicht übel aus. Ich lächle, was wohl Manuel dazu sagen würde? Was wohl Manuel mit mir
machen würde? Ich kichereund zwinkere mir verschwörerisch zu, und dann
ist sie plötzlich da, aus dem Nichts aufgetaucht, sie starrt mich aus
dem Spiegel an, blonde lange Haare, blaue Augen, genau wie ich, ich
blicke in ihr Gesicht, eine Furie, der Mund vor Abscheu verzerrt, die
Augen funkeln hasserfüllt, ich schreie auf, greife zum erstbesten
Gegenstand, ein Zahnglas, und schmettere es gegen den Spiegel, Glas
splittert, Scherben klirren, ich höre mich aufheulen,ohmächtig vor Wut,
ich halte die Hände vors Gesich
t, die Stille ist schier unerträglich, ich sinke zu Boden, zusammen gekrümmter Körper, leises Weinen.
Sara lacht. Ihr Mund ist weit aufgerissen, die Zähne glitzern perlweiss, die Lippen schimmern erdbeerrot, sechs Männeraugenpaare applaudieren
gierig. Sara hat ihr Publikum fest im Griff. Ein weiterer Abend in der
Stadt, Sara steht im Mitttelpunkt, und ich sitze etwas abseits, allein,
wie immer. Niemand nimmt mich wahr. Doch mein Plan steht fest, meine
Absicht erregt mich. Bald schon wird mein Leben endlich wieder mir
gehören. Mir allein. Ich denke an Manuel, seine dunklen Augen, seine
behaarte Brust, seine kräftigen Hände, die genau wissen, was zu tun ist. Er hat mich angesprochen, mitten im Supermarkt, und auf ein Glas
Rotwein eingeladen, mich, Alex, und ich ging zögernd mit, mit klopfendem Herzen und feuchten Handflächen, Marmortisch, Château Neuf-du-Pape,
1992, langstielige Kristallgläser, Salzstangen dazu und grüne Oliven,
ich habe gelächelt und Belanglosigkeiten von mir gegeben, es war egal.
Und als er meine Hand nahm und mich sanft auf den Mund küsste, hat es
sich gut angefühlt und echt, und Sara war nicht aufgetaucht, weit und
breit keine Sara, und ich wusste plötzlich, dass ich stärker war, dass
dies mein Leben war, dass Sara darin nichts mehr verloren hatte.
Ich will mich nicht länger tot stellen, es ist vorbei, endgültig, noch
habe ich einen kleinen Rest Macht über sie, noch tut sie, was ich sage,
ist sie, was ich will, dass sie ist. Ohne mich wäre Sara nichts.
Sara tanzt. Sie weiss, dass ihre Tage gezählt sind. Ihre Zeit läuft
ab.Sie lässt ihre Hüften kreisen, ihre Brüste hüpfen in dem engen Kleid
auf und ab, sie ist billig, sie ist eine Hure, ein Monster, ich hasse
sie. Sara ist eine Parodie, ein müder Abklatsch meiner selbst. Und
wahrscheinlich weiss sie das auch. Sara lacht, Sara tanzt. Aber nicht
mehr lange.