Christina Viragh

Geboren 1953 in Budapest. Zog 1960 nach Luzern um, wo sie aufwuchs. Studium der Philosophie, Französischen und Deutschen Literatur in Lausanne. Lebt und arbeitet heute in Rom. (2015)
Werke (Auswahl)
Péter Nádas lesen: Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten .
2012
Im April.
Ammann Verlag, 2006
Pilatus.
Ammann Verlag, 2003
Rufe von jenseits des Hügels.
1994
Unstete Leute.
Klett-Cotta Verlag, 1992
Péter Nádas lesen: Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten
2012
Die aus Ungarn stammende Schweizer Schriftstellerin Christina Viragh ist zur Zeit die erfolgreichste Übersetzerin im deutschsprachigen Raum: In derselben Woche hat sie sowohl den Europäischen Übersetzerpreis der Stadt Offenburg als auch den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Die Jury in Leipzig würdigte damit ihre hervorragende Übertragung aus dem Ungarischen von Peter Nádas' Parallelgeschichten: Viragh habe das 1700 Seiten starke Buch des ungarischen Schriftstellers so dicht und elegant übersetzt, dass jede Person ihren eigenen Klang in diesem „grandiosen Sprachorchester“ erhalte. Christina Viragh wird von ihrer Arbeit an diesem Monumentalwerk berichten und auch Einblick geben in ihr eigenes literarisches Schaffen.
Aus: Christina Viragh. Péter Nádas lesen: Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten . 2012
Aber eben, so ist der Mensch, so sind diese Figuren, dass sie, gefangen in egozentrischem Wahn, in der fatalen Tendenz, die Dinge zu trennen, das Bezugsnetz nicht sehen, nur das, was ihnen zustösst, geht sie an. Bis sich die Sache verkehrt und alles Vorfallende aufs eigene Leben bezogen wird, immer noch egomanisch, immer noch ohne Bezug zum Ganzen, wie es am Ende des Romans der Gefängniswärter Balter demonstriert, der vor lauter Selbstbezogenheit zum Mörder wird.
Um den Wahn als solchen zu entlarven und der Verknüpfung der Dinge nachzugehen, braucht es ein weitläufiges Werk. Den grossen Roman in drei Büchern, die Paralellgeschichten, die raum- und zeitübergreifende Darstellung der Mechanismen, mit denen sich die Ereignisse, auch jenseits der offensichtlichen Kausalzusammenhänge, auf unvorhersehbare Art, beeinflussen und zu einem grossen, von verschiedenen Punkten her lesbaren Ganzen werden. Weniger wäre nicht mehr, das alles zeigt sich erst dem weitgefassten Überblick.
Fr, 18.05.12, 12:00
Sa, 19.05.12, 12:00
So, 20.05.07, 13:30
Pilatus
Ammann Verlag, 2003
Aus: Christina Viragh. Pilatus. Ammann Verlag, 2003
Bestimmt haben die Ereignisse jenes Tages damit zu tun, dass Jolan beim Aufstieg durch den Wald immer schlechter sah, je mehr sie sich der Bergwiese und also dem Gegenlicht näherte. Aber ich bin nicht sicher, dass es nur um Licht und Sicht ging. Die letzten Wörter, die von ihren Reden jeweils übrigbleiben, sind meistens eher Signale als Inhalte. Es muss noch etwas anderes geben, noch etwas mit i, das in jenem Augenblick eine Rolle spielte. Später wollte ich einmal sagen: «Zwischen den Steinen, bei der Lackdose, lagen doch sicher auch deine Schwindel-Pillen», aber Jolan unterbrach mich bei «Lackdose» und sagte, es sei krankhaft, wie ich immer mit der Dose komme. Noch später versuchte ich es so: «Jolan, dir war doch bestimmt schwindlig.» Sie blickte mich wortlos aus halb zusammengekniffenen Augen an, bis ich mir sagen musste, meine Hypothese vom Hergang der Dinge lasse, wie wohl alle Hypothesen, gerade das Offensichtliche aus. Meine Hypothese lautete, dass Jolan, als sie durch den Wald ihrer Mutter nachstieg und als letztes ihre helle Jacke zwischen den Bäumen am Rand der Bergwiese verschwinden sah, schon von Schwindel befallen war und gar nie dorthin gelangte, sondern sich im Wald hinsetzte und nachher den Abstieg nach Schwarzenberg begann. Sie musste gesucht werden, und zwar suchte man sie irrtümlich in den Klüften des Nordhangs, während sie schon im Postauto nach Schüpfheim sass.
Fr, 30.05.03, 14:00
Aus einem noch unveröffentlichten Roman-Manuskript
1994
Aus: Christina Viragh. Rufe von jenseits des Hügels. 1994
Mutter hat den Bettladen aufgeschoben und sagt: «Ist es nicht möglich, ein Feuer zu machen? Von draussen kommt überhaupt keine Helligkeit herein, und hier ist es dunkel wie in einer Kuh. Wer ist in der Küche? Ist sie das? Sie ist ein Fisch in einem Bottich, schwimmt im Kreis herum und macht den Mund aufundzu. Die üble Nachrede ist eine grosse Tröstung. Ein Fisch in kaltem, schwarzem Wasser, wenn er wendet, erscheint sein gekrümmter Rücken an der Oberfläche. Sie bringt es nicht fertig, wenigstens mit etwas Glut hereinzukommen. Nicht einmal den Wandvorsprung sehe ich, ein schlechtes Zeichen. Da sollte die senkrechte Kante sein und ganz oben die Meerjungfrau mit dem flachgedrückten Kopf. Ein Scheit könnte sie wenigstens bringen. Was macht sie? Lässt sie ihre Holzsohlen über den Küchenboden schleifen, oder schabt sie am rohen Granit der Fensterbank die Schuppen vom Karpfen, oder zieht sie an der Seilwinde Reisig hoch, das sich dreht und die Hauswand streift? Sie ist ein Fisch, der das Maul halb unter, halb über der Wasseroberfläche hörbar auf und zu macht. Den hinteren Teil seines Körpers sieht man im schwarzen Wasser nicht. Sie ist ein halber Fisch. Was redet sie vor sich hin? Vor dem Fischmaul entstehen Blasen, platzen gleich.»
Fr, 17.05.96, 16:00
Unstete Leute
Klett-Cotta Verlag, 1992
Aus: Christina Viragh. Unstete Leute. Klett-Cotta Verlag, 1992
P., den man noch hin und wieder besucht, sitzt nicht mehr im Zimmer, sondern hat seiner dicken Tochter Spiegeleier gemacht. Sie liegen auf einem blauweissen Teller neben Haarbürsten, gewellten Schnallen einem zusammengeknüllten Strumpf, einem Cremetopf, zwei Zeitschriften und einer offenen Flasche Nagellack auf einem Tischchen, die Tochter fährt mit dem Pinsel über den Nagel des kleinen Fingers. Dann greift sie ohne hinzusehen mit gespreizten Fingern nach der Gabel und sticht ins Gelb hinein. Den Rücken hat sie auf drei Kissen gestützt, das gebrochene Bein liegt auf dem Bett, sie bewegt die Finger der linken Hand, mit der rechten führt sie das tropfende Stick Ei zum Mund. Da ist P. schon im feuchtkühlen Aufgang zur Orgelempore, greift nach den Schlüsseln in seiner Tasche und schliesst den Deckel auf, hinter ihm ein Sonnenfleck auf dem Boden. Dann liegen seine Hände auf den Tasten, ein gepresster, ölig-schwerer Ton drückt unten einen Augenblick die Kerzenflammen nach links.