Karin Richner
Sieben Jahre Schlaf
Bilger Verlag, 2011
In der flimmernden Hitze Südfrankreichs scheinen die Grenzen zwischen Traum, Wirklichkeit und Schlaf zu zerfliessen. Lucie tastet sich im Haus ihrer Kindheit an die Geschichte ihrer Grossmutter und ihrer Mutter heran. Sie begibt sich damit auf die Suche nach sich selbst und nach Geborgenheit, eine Sehnsucht, die das Schicksal der drei Frauen verbindet. Die wehmütige und doch zauberschöne Geschichte, ein impressionistisches Gemälde in Prosa, ist der mit Spannung erwartete zweite Roman der Aargauer Autorin Karin Richner.
Aus: Karin Richner. Sieben Jahre Schlaf. Bilger Verlag, 2011
Ich dachte daran, dass ich träumen würde, den selben Traum wie jede Nacht, von den Monaten und Jahren bei Estelle, die sich zu einem Faden zusammenspinnen und mich einwickeln würden in einen Kokon, immer dichter, bis kein Licht mehr durchdringen würde oder Luft, bis ich unbeweglich und stumm geworden wäre, bis ich vergessen hätte, wie Mama und Papa aussehen oder was ich zu Leonie sagen könnte, bis von Lucie nichts mehr übrig wäre und Estelle mich ganz besitzen würde.
Sa, 04.06.11, 10:00
Sind keien Seepferdchen
Bilger Verlag, 2006
Aus: Karin Richner. Sind keien Seepferdchen. Bilger Verlag, 2006
Dann stehe ich auf dem Pflastersteinplatz im Stadtzentrum vor Katie. Sie ist noch wie früher, nur im ersten Moment sieht sie mich etwas abschätzend an. «Wir machen jetzt Werbung für eine Party», sagt sie mit spöttisch verzogenem Mund. Dieser Ausdruck weicht kaum von ihrem Gesicht. Wie einen Schutzschild trägt sie ihn vor sich her.
Auf den Dächern der Gebäude ringsum schlafen die Tauben, den Kopf haben sie unter die Flügel gesteckt. Aus Kaminen steigt Rauch auf. Es ist ein kalter Abend, und selbst das weiße Licht der Sterne kommt mir kühl und abweisend vor. Weil Samstagabend ist, sind noch viele Leute unterwegs, vor allem Jugendliche. Katie und ich gehen auf sie zu und verteilen bunte Zettel. «Der Trick ist, den Leuten den Zettel direkt vor den Bauch hinzustrecken», hat Katie mir gesagt. Wie ein Reflex bewegt sich dann ihre Hand nach vorn und greift danach.
«Kommt ihr heute Abend auch in die Alte Fabrik? Der Eintritt kostet nicht viel. Lohnt sich bestimmt», sagen wir. Katie deckt die eine Hälfte des Platzes ab, ich die andere. Einmal winkt sie mir aus der Ferne zu, und ich winke zurück. Aus meiner Tasche hole ich einen weiteren Stapel Zettel. Ich habe schon Dutzende davon verteilt.
«Wir können umsonst rein, hast du Lust?», hat Katie mich gefragt. Ich habe zunächst den Kopf geschüttelt. Lieber möchte ich herausfinden, ob sie sich überhaupt noch an Anna erinnert. Vielleicht werde ich sie nach ihr fragen, vielleicht aber auch einfach nur abwarten. Sicher ist etwas von meiner Schwester an Katie haften geblieben, wie der feine Staub an den Fingern, wenn man Schmetterlingsflügel berührt.