Urs Karpf
Alles hat seine Stunde
1992
Aus: Urs Karpf. Alles hat seine Stunde. 1992
Siehst du, sagte Abraham zu Therese, so haben es sich die Herren ausgedacht; es ist doch, wie wenn ein einzelner Sträfling entspringt, und man meint, deshalb gleic alle Zuchthaustore öffnen zu müssen. Bei der Viehseuchengesetzgebung hingegen hat man auf alles geachtet. Schau mal drunten am Bahnhof, wenn irgendwo ein Viehwagen steht, und eine Sanitätskommission mit dicker Kreide «gereinigt» draufgeschrieben hat. Wieviel Aufmerksamkeit verwendet der Staat da nicht auf jedes rotsüchtige Saulein, jede lungenkranke Kuh, jede hustende Schindmähre; da wird rapportiert und desinfiziert, dass es seine Art hat. 1871 und auch das Jahr darauf sind hundert und aberhundert Menschen an den Blattern im Kanton gestorben. Da hat man sich nicht so abgemüht, behüte Gott nein, da blieben die Dekrete des Regierungsrates wegen der Impferei in den Gemeindestuben liegen. Nur der Kreisimpfarzt fuhr wie der Teufel im Buche Hiob umher, fluchte, drohte und beschwor die Gemeindebehörden, affischierte an allen Häusern. Und was hat es genützt? Ja, ja, es ging halt bloss um Menschen und nicht ums Vieh. Vieh ist Geld, besagt ein alter Viehhändlerspruch, und der Mensch kann uns gestohlen werden. Ist's nicht so?
Therese machte sich stumm an die Pflege ihres Sohnes, ohne die Gefahr einer Ansteckung in Erwägung zu ziehen.
Fr, 10.05.91, 11:00
Die Versteinerung
1981