Adrian Hummel

2014

32

von Adrian Hummel

Leute, die irgendwo aus der Irrenanstalt abgehauen sind - auch wenn es offiziell keine Irrenanstalten mehr gibt. Typen, die aus Medizinfläschchen Dinge in sich hineinschütten, vor denen es alle anderen graust; ein chemischer Cocktail, der sie die Nacht überstehen lässt. Sie sind zu dritt, zwei davon scheinen Brüder zu sein. Ein Beispiel wie aus dem Bilderbuch: der eine gut, der andere böse. Jedenfalls lacht der eine immer, während der andere finster in die Gegend stiert und innerhalb der kuriosen Gruppe eine Art Führer zu sein scheint. Die Fläschchen kommen aus seinem Beutel.

Der Dritte ist ihr Kumpel aus der Hölle. Seine wulstigen Fäuste zittern unkontrolliert. Er hat derartige Zuckungen, dass sich seine Augenbrauen über sein Gesicht zu stülpen scheinen, wenn er blinzelt. Sein Blick ist mal da, mal dort, stetig unterwegs, während sein Körper - ein einziger, unsteter Tremor - in den Plastikschalensitz des Busses geklemmt ist, der für seine Körpermasse eindeutig zu klein ist. Schwarze Füsse; er trägt keine Schuhe und seine Hose enden unter den Knien in Fetzen, als sei er auf seiner mysteriösen Flucht an einem Stacheldraht hängen geblieben.

Sie reden, sie reden, sie REDEN! Ohne Punkt und Komma, ohne Unterbrechung, ohne Kohärenz. Wer wie wo was und alles widerspricht sich, ein Kreislauf um seiner selbst willen, ohne Ziel. Ein Streit, der sich selbst am Leben erhält. Sie sind jung - und sie kennen den Feind nicht. Dennoch sind sie auf der Flucht, die Scheinwerfer der Verfolger hinter jeder Wegbiegung vermutend, die mit ihren Spürhunden auf der Jagd nach ihnen sind.

Das Zeug aus den Fläschchen - irgend ein Destillat aus der Hypophyse eines Reptiliengehirns, gekratzt aus verhornten Schädeln so dick wie eine Panzerplatte, absolut unpenetrierbar, mit messerscharfen Zähnen und untrüglichem Killerinstinkt - die Bachblütentherapie für das Ende der Welt. Ob alles gerade wirklich geschieht ist nicht länger von Interesse.

Vorbeifahren an den Dingern, die sie Häuser nennen, den Kapseln, in denen DIE ANDEREN brüten ohne zu denken; die Untoten, Opaken, vor denen sie ausgerissen sind.

Wer zu wem mit wem warum? Für sie gibt es keinen Ruheplatz. Schlaf bedeutet Tod. Der Tod ist Schlafes Bruder. Auf ihren Fersen: 2000 Jahre christlicher Geschichte, mit ihren Folterwerkzeugen und Zangen, Schädelmessgeräten. Ihnen zu eigen sind die Physiognomien von Brandstiftern, Droschkenkutschern, Serienmördern. Sie sind jung und kennen den Feind nicht.

Sie reden, sie reden, sie REDEN und dem Kumpel aus der Hölle müssen sie das Fläschchen förmlich entreissen; seine klumpigen Pranken mit den schrundigen Wurstfingern wollen den Saft nicht hergeben. Der Streit. Jeder übervorteilt jeden und sein verwirrtes Hirn weiss nicht, wie lange der Vorrat reichen wird, wie viel die Brüder davon in ihrem Beutel horten. Der Bruder mit dem stieren Blick führt ein strenges Regiment, hegt Misstrauen und Abscheu gegen seinen heruntergekommenen Gefährten.

Die Lichtreflexe der Strassenlampen, die wie ein Stroboskop durch die Scheiben des Busses leuchten, verzerren die Gesichter der Passagiere zu Fratzen - ein abartiges Spiel aus hell / dunkel, das einem das letzte Bisschen Vernunft aus der Birne leuchtet.

Sie reden, sie reden, sie REDEN; die verdammten Leute im Bus reden ohne Unterlass von ihren DINGEN. Alles Dinge: wo man hingeht, wen man trifft, was man macht und atmet - und das ist, was einen Sinn macht. Ekel. Gottverdammt. Die Flucht ist alles, was übrig bleibt. Und die Leute stinken mit ihrem Parfum und den Bierdosen gegen die Kumpels an - die drei Typen mit Gerüchen nach Schweiss aus Poren verstopft mit Strassendreck, einer silbergrauen Haut ununterscheidbar von den speckigen Klamotten, die sie tragen.

Der lustige Bruder lacht. Der Scheiss ist zu komisch. Die verdammte, verfickte Welt ist ein einziger Zirkus, ihr einziger Zweck seine Unterhaltung. Es gibt kein Gesetz, keine Freiheit, nur grausame Momente. Und wenn er nicht lachen würde müsste er weinend ersticken, während sich seine Hände ins fleischige Gesicht seines Verfolgers graben, der ihn endlich zur Strecke gebracht hat, mit einem sadistischen Lächeln auf den rotweingeröteten Bürgerlippen. Das Fläschchen macht die Runde, die Lampen leuchten, die Leute ignorieren. Bis am Platz X der Punk mit dem Welpen zusteigt.

Der Punker säuft jetzt nur noch am Wochenende, um wieder auf die Reihe zu kommen. Ob er die drei Typen kennt, ist nicht festzustellen. Sie reden, sie reden, sie REDEN. Und die Kumpels greifen seinen kleinen Köter ab, mit ihren spermaverharzten Tatzen. Der Welpe leckt genüsslich. Nachdem sich der und die und der andere und noch jemand umgebracht haben, spricht der Punk, da lag ich nur noch rum, hab den ganzen Tag gesoffen, jeden Tag.

Es spielt keine Rolle, ob die drei Typen ihm zuhören, oder ob sie ihn überhaupt hören. Wie ein Kind redet er an die Wand, froh um die Illusion von Aufmerksamkeit, während sich die Typen weiter an dem Tier delektieren. Besonders dem Tremor hat es das Vieh angetan - ein lebendig gewordenes Stofftier, das ihn an seine einzigen glücklichen Momente in all den Heimen erinnert, in denen er seit der 3. Klasse eingekerkert war; an den Moment zwischen dem Lichterlöschen und dem Augenblick, wo das rotweingeschwängerte Bürgergesicht sich ins Zimmer schleicht, mit seiner von der Ehefrau verstossenen, abartigen Geilheit. Tremor könnte den kleinen Hund locker zu Brei zerquetschen. Doch er fasst ihn nicht einmal richtig an. Die zittrige Pranke gleitet zögernd über das Seidenfell. Sein Gesicht zuckt gewaltig, die Nase springt ihm auf die Stirn und sein Haaransatz stülpt sich über sein Kinn.

In einer chronologischen Litanei spricht der Punk von all dem Scheiss, Mann, all der Scheiss. Während seine Worte in der Sprache auf Abgeklärtheit getrimmt sind, liest sich seine ausgespuckte Todes- und Elendsliste wie ein Ausrufezeichen der Aufmerksamkeit. Selbstmord, Selbstmord, Selbstmord, Drogen, Drogen, Suff - sein Lippenpiercing verfängt sich sich schmerzhaft in den breiigen Worten. Mann, all der Scheiss. Während sein Erlöser, der Welpe, sich anschickt, in den Bus zu pissen. Ein paar tätowierte Zuhälter lachen aus ihren seelenlosen Mundlöchern.

Der stiere Bruder ist der einzige, der ihm eine Art Antwort gibt; ein Grunzen, ein Hinrotzen von Plätzen, Strassennamen, unbekannten Leuten, plagiierten Namen. Eine falsche Fährte der Gemeinsamkeit, Imagination gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit. Der stiere Bruder weiss, dass seine Bande die Unterstützung von solchen Vögeln braucht. Manchmal haben die was zu Rauchen, zu Saufen, zu Schnupfen. Der Punk ist ihm scheissegal. Sein Bruder ist ihm scheissegal. Der Tremorklumpen ist nur ein Hindernis - der Typ ist viel zu durchgedreht, führt permanent Selbstgespräche in seinem zu kleinen Sitz. Der Punk ist scheisslangweilig und macht sich wichtig mit seinen Geschichten. Der Typ ist fake. Vielleicht war er vor zehn Jahren mal eine Nummer. Jetzt ist er ein Witz, den die Zeit überholt hat und seine gewünschte Autorität ist eine Rezitation abgelaufener Geschichten.

Der Bus fährt, automatisierte Mechanik mit einem Roboter am Steuer, einem Träumer. Der Traum: der Rotwein, die Pausenzigarette, der staatlich organisierte Kurzurlaub. KDF. Bei einer Zigarette kann man sich entspannen. Es lindert den Stress. Ein Glas Rotwein entspannt auch, und bald ist die Flasche leer und keiner redet darüber, wenn man ins Bett torkelt, weil es alle tun. Alle tun es. Bloss das nicht. Alle sind der Feind. Da gibt es keine Unterschiede.

Der Bus fährt, fährt, FÄHRT, erreicht schliesslich die Pforte zur Unterwelt, an der Brücke, die über den Hades der Stadt führt, wo die rumänischen Billig-Prostituierten mit der aufgeheizten Internetpornographie konkurrieren. Der Punker steigt aus, den Welpen auf den Armen wie den kleinen Moses.

Dem Kumpel aus der Hölle fällt es immer schwerer, sich im Griff zu halten. Die Zeit geht vorbei. Es ist das schlimmste, wenn man merkt, wie die Zeit verstreicht. Endlose Nacht. Sie werden bei Tag nicht gesichtet, nicht bemerkt, schlafen in den ausgebombten Ruinen der Fürsorge, liegen im Koma, liegen am Strassenrand, bis sie von Reinigungskräften oder Streifenpolizisten weitergehetzt werden. Der Bus taucht ein in die klaffende Schlucht, die Wunde des Bürgertums, der Sicherheitskomödianten. Lichtreflexe, seelenlose Mundlöcher, Zuhälter, Bordelle, Lachen. Der lustige Bruder lacht. All der Scheiss, Mann. Tremor zittert wie ein Erdbeben - als wolle sein massiger Körper die Welt aus den Angeln heben, die Welt, die ihn zur Witzfigur macht. Racheträume mit blutigen Küchenmessern, Halluzinationen, endlos, endlos, Nacht, Traum, wach, Stroboskop, Schreie, Polizeisirenen und das letzte Gefecht - unehrenhaft in einem versifften Hof, wo die Junkies hinscheissen; ohne Schusswechsel, mit nachlässigen Flüchen und wenig Gerangel. Ihr Schweine. Und im Beutel sind noch drei Fläschchen.