Aiko Onken (Max R. Nemodoh)

2006

Eva

von Max R. Nemodoh

"Eva, Liebes. Du musst einsehen, dass Claudi hier nicht wohnt. Hier wohne nur ich. Ganz allein, und ganz ohne Claudi. Schon seit einer ganzen Weile. Und aller Voraussicht nach wird das auch noch eine ganze Weile so bleiben", sage ich und lege den Hörer auf. Das war nicht besonders nettvon mir. Aber ich bin heute nicht in Stimmung für Diplomatie. Warum ich so genervt ins Telefon schnauze? Keine Ahnung. Ich habe schlechte Laune, weiter nichts. Habe ich den Herd ausgemacht?

Diese Eva. Das geht schon seit Jahren so, mit diesen Anrufen. Ich kann michgar nicht mehr daran erinnern, wie es war, als es noch nicht so war. Selbst wenn morgen die Bombe fällt, kann ich mich darauf verlassen, dass immersonntags, immer vormittags, immer gegen halb elf mein Telefon klingelt. Wenn ich abnehme, sagt eine junge, freundliche und gutgelaunte Stimme: "Hallo, hier ist Eva. Ist Claudi da?" Und jeden Sonntag erkläre ichEva vormittags gegen halb elf, dass es hier keine Claudi gibt. Eva ist immer sehr freundlich, entschuldigt sich und sagt, dass sie sich wohl verwählt hat. Jeden Sonntag, ich habe mich längst daran gewöhnt. Ich fange immer schon am Samstag an zu denken, morgen ruft Eva an. Manchmal auch am Freitag. Und wenn die Woche um ist und Eva am Sonntag um elf Uhr immer noch nicht angerufen hat, beginne ich langsam, mir Sorgen zu machen. Wo bleibt denn Eva, denke ich dann. Aber Eva ist zuverlässig. Nicht immer gan
z pünktlich, aber zuverlässig. Und wenn sie dann anruft und nach Claudi fragt, erkläre ich ihr freundlich, dass es hier keine Claudi gibt. Und dann ist sie ganz überrascht und sagt so halb zu sich selbst, da muss ich mich wohlverwählt haben. So ganz überzeugt klingt das nicht. Es klingt eher, als wäre sie im Gegenteil völlig sicher, die richtige Nummer gewählt zuhaben. Als ob ich lüge und Claudi unterm Bett verstecke. Aber Eva bleibthöflich, entschuldigt sich dafür, dass sie mich gestört hat, verabschiedet sich und legt auf. Immer Sonntag, immer vormittags, immer gegen halbelf. Ich meine, das kann einen doch in den Wahnsinn treiben. Da darf man schon mal unhöflich sein, ein einziges Mal in all den Jahren. Oder nicht? Doch. Natürlich. Der Herd war gar nicht an.

Ist Claudi da. So eine blöde Frage. Nein, Eva, Claudi ist nicht da. Wer ist das überhaupt, Claudi, dieses Phantom, frage ich mich, während der Kaffee durch den Filter läuft und ich der kleinen Dampfwolke nachsehe. Evas Freundin vielleicht, eine alte Schulfreundin. Ihre neunzigjährige Patentante. Eine Bekanntschaft aus dem Urlaub auf Kreta. Oder ihre Schwester. Wer weiß. Vielleicht ruft Eva immer hier an, weil ich die Telefonnummer habe, die Claudi früher mal hatte. Das könnte doch sein. Vielleicht war Claudi ja wirklich mal hier. Wo ist sie wohl jetzt? Bestimmt ist sie im Irrenhaus, denke ich, oder im Gefängnis. Vielleicht ist sie tot. Oder sie ist abgehauen, nach Australien, das wäre ja meine erste Wahl. Warum ist sie wohl verschwunden, ohne Eva Bescheid zu sagen? Vielleicht haben sie sich gestritten. Mit maximaler Lautstärke, auf offener Straße, und alle, die gerade vorbeiliefen, haben zugehört, wie peinlic
h. Das hätte ich Claudi gar nicht zugetraut. Nach dem Streit haben sie nie wieder miteinander geredet, das ist für immer zu Ende! haben sie sich geschworen, die dramatischenZicken. Ach, was weiß ich. Wer ist Claudi, denke ich und zünde mir eine Zigarette an.

Und wer ist eigentlich Eva, die mich jeden Sonntag nach Claudi fragt, denkeich, während ich mit dem heißen Kaffeebecher in der Hand in mein Sofa sinke. Also, irgendwas riecht hier verbrannt. Warum kriegt das verrückte Huhn es nicht in ihren Schädel, dass Claudi nicht hier wohnt? Es mag ja sein, dass der Streit ihr furchtbar Leid tut, und dass sie das damals nicht hätte sagen sollen, so mitten auf der Straße vor all den Leuten. Aber du kannst es nun mal nicht ungeschehen machen, Eva. Claudi ist nicht mehr da, sieh es endlich ein. Außerdem bist du doch selbst schuld. Was sollen deine ewigen Anrufe jetzt noch nützen? Komm klar, Schätzchen. Weißt du,du bist genau wie die abergläubischen Menschen, die sich umdrehen und noch einmal über die Stelle gehen, an der sie gestolpert sind. Die kann ichja echt nicht leiden. Sieh es ein, Eva, du wirst die Welt nicht verändern, indem du einfach alles auf Anfang stellst und
so tust, als riefest du gerade zum ersten Mal an. Wow, denke ich, Eva hat echt einen ziemlichen Dachschaden. Komisch, dass ich darüber nie nachgedacht habe.

Aber gerade bei solchen Menschen muss man ja aufpassen, denke ich. Vielleicht hätte ich Eva nicht so anschnauzen sollen, wenn sie sowieso schon ein bisschen, naja, labil ist. Sie kann ja auch nichts dafür, dass ich heute schlechte Laune habe. Und dann fällt mir ein, dass ich Eva gar keine Zeitgelassen habe, sich bei mir zu entschuldigen, wie sie es sonst immer tut. Und verabschiedet haben wir uns auch nicht. Ich habe den Ablauf des Gesprächs verändert, der sonst immer gleich ist. Ich habe nicht kooperiert, denke ich und muss an meinen Therapeuten denken. Sie sind nicht kooperativ,sagt der gern zu mir. Das war bestimmt irgendwie nicht gut für Evchen, mein Geschnauze, und dass ich so unvermittelt aufgelegt habe. Dass alles so anders war. Man hat ja schließlich so seine Regelmäßigkeiten im Leben. Feste Abläufe im Alltag, die Schienen durch die Zeit legen. Die ein bisschen Boden unter den Füßen geben. Das ist ja auch
nicht schön, wenn das wankt. Vielleicht hockt Eva jetzt völlig apathisch neben ihrem Telefon und kapiert gar nicht, was da gerade passiert ist. Glotzt Löcher in dieLuft. Und sabbert dabei. Am Ende habe ich jetzt eine ganze Woche ihres Lebens kaputtgemacht. Vielleicht steht Eva jetzt eine Woche lang still, wie ein Spielzeug, das man nicht aufgezogen hat. Gelähmt, völlig tot, bis siemich am nächsten Sonntag wieder anrufen kann, damit die Ordnung wiederhergestellt ist.

Ich ziehe nervös an einer neuen Zigarette und laufe in der Wohnung auf und ab. Ich sehe es schon kommen, dass ich mir jetzt eine Woche lang Sorgen um Eva machen muss. Verdammte Eva! Bis sie wieder anruft und nach Claudi fragt und alles wieder gut ist. Das ist erst in einer Woche! Und dann denke ich auf einmal: Und wenn sie überhaupt nicht mehr anruft? Vielleicht habe ich jetzt so viel Unordnung gestiftet, dass Eva einfach nie wieder anruft. Das wäre ja nicht auszudenken. Und alles nur, weil ich schlechte Laune hatte und Eva angeschnauzt habe und sie keine Zeit hatte, sich wie immer zu entschuldigen und dann aufzulegen, damit alles stimmt. Verdammt. Ich gehe in der Wohnung herum und sehe nach, ob ich den Herd ausgemacht habe. Ich glaube, der war gar nicht an. Ich beiße mir einen Fingernagel ab, weil ich dieZigarette ausgedrückt habe. Verdammt. Verdammt!

Ich hatte ja so eine Ahnung, denke ich, während ich nachsehe, ob die Tassen im Küchenschrank alle mit dem Henkel nach vorne stehen. Ich mag das so. Es war ja schon seit einigen Monaten nicht mehr so ganz wie immer, denke ich und schiele auf das Telefon. Es begann so langsam, dass ich es zuerst nicht merkte. Aber es muss vor, sagen wir mal, elf oder zwölf Telefonaten begonnen haben, dass Evas Stimme sich veränderte. Gar nicht viel. Immer noch klang sie gutgelaunt und war freundlich und höflich wie immer. Aber plötzlich war etwas Anderes in ihrer Stimme, etwas Trüberes, das mich ganz unruhig machte. Wenn Eva jetzt nach Claudi fragte, dann flüsterte ein leiser Unterton wie durch so tiefes, grünes Wasser hindurch dazwischen. Und dieser Ton in der Stimme sagte ganz, ganz leise, dass Eva längst wusste, dass Claudi nicht mehr da war. Nie wieder da sein würde.
Ich glaube ja, Eva selbst wusste es nicht. Sie war ja immer noch so überrascht, wenn ich ihr sagte, Claudi sei nicht da. Nur ihre Stimme wusste es irgendwie schon. Und die wurde auch immer trauriger, wenn sie sich bei mir entschuldigte, wenn sie sagte, sie müsse sich wohl verwählt haben. Als wüsste sie eben doch, dass es nicht so war. Mir hat das Angst gemacht. Immer, wenn ich den Hörer abgenommen habe, am Sonntagvormittag gegen halb elf, habe ich schon gedacht, heute sagt sie: "Du, ich rufe nicht mehr an." Aber das hat sie nie getan. Sie ruft immer wieder an, jeden Sonntag, vormittags gegen halb elf. Auch wenn Claudi nicht hier ist.

Es war alles in Ordnung! Eva hat nie gesagt, dass sie nicht mehr anruft. Und das hätte sie auch nie! Nicht meine Eva, Eva ist treu wie Gold, Eva hätte mich niemals verlassen. Aber ich habe alles kaputt gemacht. Es ist alles meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass Eva nie, nie, nie wieder anrufen wird. Eva wird nicht mehr anrufen, denke ich. Nie wieder. Und es ist meine Schuld. Wenn ich nur wüsste, wo Claudi ist! Claudi hat Evas Telefonnummer. Ich drehe unruhig die Herdschalter hin und her. Wenn ich nur –--aber Eva rettet uns. Ach, Eva. Gute, alte Eva. Auf Eva ist Verlass. Das Telefon klingelt, ich habe den Hörer in der Hand, bevor das erste Klingeln zu Ende ist. Es ist Eva.
"Tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Ich muss mich irgendwie verwählt haben", sagt sie, genau wie immer. "Hey, kein Problem", sage ich, genau wie immer. Vielleicht ein bisschen zittriger als sonst. Wir wünschen uns einen schönen Tag noch und sagen tschüs. Ich lege den Hörer auf. Gott sei Dank! Es ist alles wieder gut. Eva hat den Ausrutscher korrigiert. Ach, Eva. Jetzt aber los. Ich komme eh schon zu spät.

Ich ziehe meine Schuhe an und will schon die Tür hinter mir abschließen, aber ich gehe lieber noch mal zurück und sehe nach, ob der Herd aus ist. Ich gehe über die Straße und darf nicht auf die Fugen im Pflaster treten. Das war ja gefährlich knapp heute, denke ich und muss beinah lachen,so leicht ist mir zumute. Ich muss besser aufpassen, nächsten Sonntag. Alle Sonntage. Ich kann es nicht riskieren, dass Eva nicht mehr anruft, das geht nicht. Eva muss mich weiter anrufen, immer sonntags, vormittags gegen halb elf. Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn Eva eines Tages nicht mehr anruft. Aber etwas Schlimmes wird es sein, soviel ist sicher. Wenn Evaaufhört, mich anzurufen, dann ist alles zu Ende. Ich laufe über die Brücke und sehe hinab in den Fluss. Der Verkehr auf der dreispurigen Straße ist so laut, dass niemand hören kann, dass ich mit mir selbst rede. Ich weiß nicht, wo Claudi ist. Ich weiß
; nicht, wer Eva ist. Vorerst weiß ich nur, dass Eva am nächsten Sonntag, vormittags gegen halb elf, wieder anrufen wird. Vielleicht macht Eva, dass die Welt sich dreht, denke ichund gehe weiter.