Andrea Gerster

2003

ADEOS

von Andrea Gerster

ADEOS VERSION EINS
"Deine Kragenknöpfe sind offen". Erschrocken lässt er zu zu, dass flinke
Mutterhände an seinem Hals nesteln. Und hat das Gefühl zu ersticken.
Dieselbe diktatorische Dienstfertigkeit, mit welcher sie am Morgen seinen
Schlafanzug zusammengefaltet, sein Rasierwasser aus dem Bad geholt hatte. Er
stand derweil untätig herum, bis sie ihm frische Unterwäsche hingelegt und
späten den Befehl - mach die Koffer zu ­ erteilt hatte. Ihre mütterliche
Fürsorge konzentrierte sich auf ihn, seit die Kinder aus dem Haus sind.
Gerade jetzt fallen weniger Ueberstunden an, er ist damit jeden Tag früh zu
Hause, wohin hätte er auch gehen sollen, stattdessen.
Er beobachtet die Menschen auf dem Flughafen. Seine Frau beobachtet ihn.
Sucht ihn ab nach Schuppen auf dem Kragen. Sie kommentiert und bewertet. Er
fürchtet sich davor, dass sie eines Tages in seinen Kopf hinein sehen
könnte, seine Gedanken liest, nicht auszudenken. Zwei Wochen Urlaub in
Portugal hinter ihnen. Und er ist ausgelaugt. Kaffeebesorger, Zeitungsbote
und Liegestuhlreservierer ist er für sie gewesen.
Er freut sich auf das Büro. Gleichzeitig graut ihm vor dem Tag, an dem er
nicht mehr hingehen kann, altershalber.
Der Flug geht in einer Stunde. Er hat Kaffee geholt, möchte ruhen, einfach
nur sitzen. Schliesslich hat er bereits um fünf Uhr in der Früh den
Mietwagen die Algarve entlang gesteuert, begleitet von Vorschlägen, wie man
auch fahren könnte: Schneller, langsamer, mit Voll- oder Abblendlicht.
Irgendwann war es geschafft und eingecheckt.
Die Menschen wirken geschäftig. Er wünscht, es wäre Montag, er wäre in
Deutschland und in seinem Büro. "Du wirkst etwas debil, wenn du mit halb
geöffnetem Mund ins Leere starrst". Wieder erschrickt er, klappt den Mund zu
und fühlt den ziehenden Schmerz im linken Arm.
Wie gestern, als er sich am Morgen zu schnell ins kühle Meer gestürzt hatte
Er liebt diese Frühe, den jungen Tag, mit einer frischen Sonne und einem
leerem Strand. Und vor allem schlief s i e dann noch. Ohne Frühstück gehe
ich nicht aus dem Haus, stellte sie gleich zu Anfang des Urlaubs klar. Er
hatte dabei mit einem Kugelschreiber gedankenlos einen Rettungsring
gekritzelt. Auf das Hotelprospekt mit den Angaben über die Essenszeiten und
Regelungen für die Poolbenützung.
Er hasste die Härte, mit welcher das Sonnenlicht auf den weissen den Pool
einfassenden Stein aufschlägt. Ihm wurde übel, wenn er den aus dem
künstlichen Blau des Wassers aufsteigenden Chlorgeruch wahrnahm. Ihn reizte
das warme Hellbraun des Sandes, lockte der Salzgeruch, welcher das Meer zu
ihm schickte.
Manchmal sagte sie: Ohne mich kämest du nicht zu Rande. Würdest weder deine
Socken noch den Bohnenkaffee finden. Er weiss, dass sie dies so will. Dass
er so sein muss, wie sie sich ihn wünscht. Sonst bekäme sie einen dieser
Migräneanfälle, der sie grau aussehen lässt, sie im abgedunkelten Zimmer ins
Bett zwingt. Dies immer an Wochenenden oder im Urlaub. Damit er jeweils auf
einem Stuhl vor ihrer Zimmertür sitzen kann, in Erwartung dessen, dass der
Waschlappen auf ihrer Stirn nicht mehr kühlt, und sie mit schmerzhaft hoher
Stimme nach ihm ruft.
Dein Kaffee wird kalt, sagt sie. Er hat keine Lust auf das dunkelbraune
Gebräu vor ihm. Als er aber ihren Blick auffängt, stürzt er ihn hinunter,
und sieht über den Tassenrand hinweg, wie sich ein triumphierender Ausdruck
in ihrem Gesicht breit macht.
Der Schmerz, er zieht sich jetzt bis zum kleinen Finger hin. Er musst sich
erkältet haben, als er mit offenem Wagenfenster gefahren ist. Wie plötzlich
diese Empfindlichkeiten gekommen sind. Kein Durchzug, keine kalten Füsse
oder Getränke mehr, kein Kaffee auf die Nacht. Magen, Darm und Blase
reagieren sensibler als seine Seele.
Hast du die Flugscheine? Wieder erschrickt er darüber, wie plötzlich ihre
Stimme seine innere Stille zerreisst - in diesem lauten Flughafen.
Wir müssen, befiehlt sie. Sie hängt ihm ihr Handgepäck über und schiebt ihn
vor sich her. Er versucht seinen linken Arm zu schonen, was nicht einfach
ist, denn sie leitet ihre Anweisungen immer damit ein, dass sie ihn kurz
aber energisch am Ärmel zupft.
Die Stewardess hat perlweisse Zähne, sie steht oben am Gangway, ein warmer
Wind bläst. Das Handgepäck ist schwer, er versucht sich am Geländer
hochzuziehen, spürt dabei die schiebende Hand seiner Frau, wundert sich, wie
undeutlich er ihre Stimme vernimmt. Zwei Stufen noch. Die Stewardess zeigt
ihre perlweissen Zähne nicht mehr. Hat die Lippen fest aufeinander gepresst,
reisst die Augen auf, zwei steile Falten ragen in ihre Stirn.
Adeos, sagt er, doch sie scheint nicht zu verstehen, obschon doch
Portugiesisch ihre Muttersprache ist. Ein unsäglicher Schmerz wütet in
seiner Brust.
Dass mit einem Mal auch sein Herz sensibel werden würde, hat er nicht
erwartet.

Adeos Version zwei
Sie will seine Kragenknöpfe schliessen. Er zuckt zusammen. Als ob er Angst
hätte vor ihr. Am Morgen hatte er minutenlang mit geöffnetem Hosenladen
dagestanden. Er wird zunehmend eigen. Oder war das vorher nicht aufgefallen,
weil die Kinder noch im Haus waren?

Er lässt zu, dass ihre flinken Mutterhände die Knöpfe schliessen. Manchmal
nennt er sie sogar Mutter. Nicht einmal seinen Koffer packt er selber. Auch
heute Morgen hat er nur rumgestanden mit hängenden Armen, darauf wartend,
dass sie ihm irgendwann befiehlt, die Koffer runterzutragen. Sie fühlt sich
von ihm beobachtet. Klebrige Nähe macht sie krank. Dieses Rumstehen mit
halbgeöffnetem Mund; er sagt nichts, schaut ins Leere.

Jetzt scheint er die Menschen auf dem Flughafen zu beobachten. Wenn eine
junge Frau in sein Blickfeld kommt, bleiben seine Augen auf der Höhe ihrer
Brustwarzen hängen. Peinlich. Starrt der mit offenem Mund. Einmal
befürchtete sie, es rinne ihm beim Starren Speichel herunter, aber sie hatte
sich getäuscht, es waren Schweisstropfen.
Sein Kragen ist voller Schuppen.
Sie versucht ihn abzulenken, damit er nicht mehr so schwachsinnig starrt.
Vielleicht ist das ja Liebe, wenn man den anderen davon abhält, sich
lächerlich zu machen.

Zwei Wochen Portugal haben sie hinter sich. Sie ist völlig fertig. Ständig
musste sie ihn beschäftigen, schickte ihn Kaffee besorgen oder die Zeitung.
Sie freut sich darauf, wenn er wieder im Büro ist. Gleichzeitig graut ihr
vor dem Tag, an dem er nicht mehr hingehen kann.
Er hat Kaffee besorgt. Den Mietwagen zum Flughafen wollte er unbedingt
selber steuern. Nicht nur, dass er sich ständig verfahren hat, er wirkte so
abwesend, dass sie es mit der Angst bekommen hat.
Die Menschen wirken geschäftig. Sie wünscht sich, es wäre Montag und er
bereits im Büro.
"Du wirkst etwas debil, wenn du so mit halb geöffnetem Mund ins Leere
starrst". Nein, Liebe ist das nicht. Wieder erschrickt er, klappt den Mund
zu und greift sich mit einer müden Bewegung an den Oberarm.

Sie ist froh gewesen, dass er jeden Morgen zum Meer hinunterging. Wenigstens
eine Stunde ohne ihn. Sie hat so getan, als schlafe sie, sonst wäre er
sicher noch auf die Idee gekommen zu bleiben und hätte vielleicht wieder
schweigend die Hotelprospekte vollgekritzelt. Das einzige, das ihm noch
wichtig schien, war das Essen.
Eigentlich hasste sie Hotelpools. Lieber wäre sie ins Landesinnere gefahren..
Hätte Fussmärsche unternommen, aber nicht im Sommer, in dieser Hitze. So lag
sie auf dem von ihm mühsam ergatterten Liegestuhl, las was ihr in die Finger
kam und versuchte ihn zu beschäftigen.
Sie schickte ihn zum Meer hinunter, dann schwamm er aber jeweils so weit
hinaus, dass sie fürchtete, er schaffe es nicht mehr zurück. Sie konnte den
Blick nicht lassen, von seinem Kopf, der nur als eine auf den Wellen
tanzende Kugel auszumachen war. Er quälte sie.

Manchmal wollte sie ihn auch plagen, sagte etwa: Ohne mich kämest du nicht
zu Rande. Würdest weder deine Socken noch den Bohnenkaffee finden. Sie
hoffte dann, dass er sich wehren, die Socken und den Bohnenkaffee holen und
alles an die Wand knallen oder wenigstens etwas dazu sagen würde.
Aber er schwieg.
Von seinem Schweigen und ihrer Wut bekam sie stechende Kopfschmerzen. Immer
diese Wochenenden, diese Urlaube, manchmal glaubte sie wahnsinnig zu werden..
Und er wusste nicht was tun, stand da und sie schickte ihn einen kalten
Waschlappen für ihre schmerzende Stirn zu holen. Sie schloss jeweils die
Fensterläden, legte sich ins Bett und wusste, dass er vor ihrem Zimmer auf
dem Stuhl hockte, darauf wartend, dass sie ihn wieder einen kalten Lappen
holen hiess. Und der Schmerz in ihrem Kopf ging nicht weg.

Er starrt immer noch. Sein Kaffee ist längst kalt. Sie macht ihn darauf
aufmerksam, erschrocken stürzt er die braune Brühe auf einen Zug hinunter.
Sie versteht diesen Menschen nicht. Er ist ihr fremd. Wieder fasst er nach
seinem Arm, eine graue Strähne hängt ihm ins Gesicht. Alt ist er geworden.
Macht alt auch fremd? Oder ist die Fremdheit ganz tief in ihm drinnen und in
ihr?
Oft ist er empfindlich, fast weinerlich: Kein Durchzug, keine kalten Füsse
oder Getränke mehr, kein Kaffee auf die Nacht.
Ob sich da noch etwas beim ihm da unten tut, wenn seine Augen an fremden
Brustwarzen hängenbleiben?
Er merkt nicht, dass es Zeit ist, zu gehen. Wieder erschrickt er, als sie
ihn anspricht. Das Handgepäck würde er glatt stehen lassen. Sie hängt es ihm
um und schiebt ihn vor sich her. Ich lasse mich scheiden, bevor er völlig
zum Kind wird, denkt sie dabei.
Die Stewardess, die eben noch freundlich gelächelt hat, schaut plötzlich
ernst, fast böse.
Sie kann nicht sehen, was er gerade macht, er geht vor ihr, versucht sich am
Geländer hochzuziehen. Ob er der Stewardess etwa die Zunge herausgestreckt
hat?
Jetzt sieht es aus, als ob die Stewardess ihn halten wolle, ein halbherziger
Versuch nur. Er sackt in sich zusammen, murmelt etwas, sein Gesicht,
seitwärts auf die Stufe gelegt, wirkt seltsam blau.
Er hat also doch noch ein Herz, denkt sie verwundert, aber es ist
empfindlich geworden.