Max Weber

2005

Finissage

von Max Weber

Noch acht Stühle fehlen zum Kreis, Sitzflächen gegen innen, Lehnen gegen aussen, genau ausgerichtet im grossen Rund, dreissig Stück im Ganzen. Fast zwei Stunden hat er heute gebraucht, alles mit einer Hand, die andere umkrallt den Krückstock, ohne diesen geht es seit einer Woche nicht mehr. Drei Schritte hinkend den Stuhl nachziehen, ausruhen und wieder versuchen, drei weitere Fusslängen hinter sich zu bringen, die Zeit läuft aus. Noch drei oder viermal das Ganze durchziehen, genau nach Schema, ausmessen, ausleuchten, letzte Retouchen anbringen, noch eine Woche oder zwei oder eben so lange, wie es braucht und wie es ihm gegeben ist.
Nun die Bilder im Kreis auf den Boden gestellt, von den Stuhllehnen gestützt, immer fünf Berglandschaften in grau, in der Mitte der höchste, links und rechts davon zwei kleinere, und aussen auf beiden Seiten die Hügel. Fünfmal das Gleiche, so wie es sein muss, und dazwischen die Frauenköpfe, immer dieselbe Frau in rot, fünfmal gealtert und gemalt von dreissig bis zu siebzig. Ein Bild nach dem anderen, vom Stapel an der Wand zur nächsten freien Stuhllehne ziehen, auf den Stock gestützt zurücktasten und das nächste in Angriff nehmen, dreissig Mal. Dann eine halbe Stunde Pause, ein Glas vom alten Rotwein, exakt so, wie jeden Tag seit einem halben Jahr.
Und wieder läutet das Telefon. Schon zum vierten Mal heute nachmittag. Zehn, zwölf Anruftöne, dann wird aufgehängt und in einer halben Stunde wieder probiert. Sicher nur einer der grossen Kunsthändler oder das Sekretariat des Kulturministers, die sollen warten, Matthias Merenschwand wird sich melden. Zweiundneunzig ist er und immer noch berühmt, die werden warten, müssen warten und wissen, dass er eines Tages bereit sein wird zum grossen Finale. Er lässt sich doch nicht unter Druck setzen. Einen Merenschwand vergisst man nicht, auch zwanzig Jahre nach der grossen Ausstellung.

Nun die mattgelben Kirchenkerzen in den Silberständern vor jedes Bild gestellt und die übriggebliebenen zwanzig Stühle in vier Reihen vor der Installation platziert, genau so, wie er es jedesmal gemacht hat. Noch nachgemessen, ob die Abstände stimmen, die Stühle nochmals leicht verschoben. Die Kerzen angezündet und die CD mit dem Streichquartett aufgelegt. Die Scheune riecht nach altem Wachs und altem Heu. Matthias verneigt sich gegen den Kulturminister und gegen die berühmten Musiker. Und genau jetzt wieder das verdammte Telefonklingeln, vermischt mit zu dünnen Geigenklängen, die aus dem Lautsprecher scheppern und dem zweitobersten Grauton bei den Bergbildern, der eine Spur zu hell ist. Er wird nochmals beginnen müssen. Heute noch abbauen, genau nach Plan, und morgen wieder aufbauen, schöner und besser. Der Kulturminister kann warten.

* *

Auch dieses Mal antwortete der Alte nicht. Marco gab den Versuch auf, seinen Onkel anzurufen; entweder war Matthias krank oder auf seinem halb verfallenen Bauernhof verunglückt, vom Heuboden gefallen oder in der Jauchegrube ertrunken, oder er irrte, schwer auf seinen Krückstock abgestützt, seinen Verrücktheiten nach. Schliesslich war er zweiundneunzig und hatte in seiner Zeit zu den Berühmtheiten des Kunstlebens gehört, das gab ein Anrecht aufs Spintisieren. Aber auch Marco glaubte, ein Anrecht auf seinen Onkel zu haben, auf seine Gastfreundschaft und auch ein wenig auf seinen Besitz. Ein dringendes Anrecht, denn andere Möglichkeiten hatte er keine mehr. Seine Firma war pleite, seine Frau hatte ihn vor die Türe gestellt, alles Geld war verloren und seine Freunde kannten ihn nicht mehr. Da half sein unerschütterlicher Charme nicht weiter.

Und am nächsten Morgen fuhr er hin.

* *

Seit zwei Stunden sitzt Marco in der ersten Stuhlreihe. Matthias hat noch keine drei Sätze mit ihm gesprochen, nur danke fürs kommen, aber auf der Einladung sei doch gestanden, dass es erst morgen um siebzehn Uhr beginne, aber er könne ja zuschauen, in der Küche werde er sicher was zu trinken finden. Und Marco hat die halbleere Whiskyflasche aus dem Schrank genommen, hat Glas um Glas gefüllt und jetzt ist kein Tropfen mehr drin und der Kopf ist wohlig warm. Soll der Alte doch spinnen und leere Kartons an Stühle anlehnen und Kerzen davorstellen, wie vor einen Altar, und soll er ihn doch mit Exzellenz und Kulturminister ansprechen. Vielleicht hat es noch eine Flasche im Keller.

"Marco, gefällt es dir? Auch das Fernsehen wird kommen. Und hoffentlich Hintermeyer von der Neuen Zeitung, der war mir immer gut gesinnt." Matthias hat sich neben Marco gesetzt. "Meinst du nicht auch, dass es noch ein bisschen Farbe braucht bei den Bergabhängen und auf den Wangen der Frau. Möchtest du mir helfen, ich kann kaum mehr auf den Beinen stehen. Nimm dir den breiten Pinsel und die grüne Farbe dort, ja, das ist das richtige und gehe nun zu den Bergbildern. Und mal mir mit voller Kraft die Steilhänge dunkelgrün aus, breit, kantig, jawohl, so ist es recht."

Marco zieht breite Pinselstreifen farbig leuchtend über die leeren Kartonstücke, genau so, wie Matthias es ihm befiehlt, und bei den Frauenporträts malt er runde Scheiben auf die graue Fläche, schönstes karmesinrot mit rabenschwarzen Augenkernen mittendrin und Mund und Nase lässt er aus. "Das müssten die Betrachtenden erfinden", meint der alte Meister.
"Matthias, wir brauchen noch mehr Kerzen, nur wachsgelb ist zu trist" und Marco füllt die leeren Räume vor und auf und hinter den Bildern mit weissen, roten, blauen Lichtern und verziert den Szenenbau mit kunterbunten Papierguirlanden. Matthias lässt das Streichkonzert in voller Lautstärke ertönen. Marco zündet die Kerzen an.
Der Alte schreit auf: "Sie kommen. Ich habe es gewusst, die konnten sich noch nie an die Termine halten". Er verneigt sich gegen die Musiker, gegen den Kulturminister und seine Frau, die Stuhlreihen füllen sich, die Herren im Smoking, die Damen in Abendroben. Marco hat die Begrüssung übernommen, der alte Maler stützt sich zitternd auf seinen Krückstock. Die Goldrahmen leuchten im Kerzenschein und bringen das Lebenswerk von Matthias Merenschwand zu voller Geltung und die farbigen Papierbänder setzen einen fröhlichen Kontrapunkt zu den ernsten Bildinhalten. Der dritte Satz des Streichkonzertes hat geendet, die Anwesenden applaudieren. Der Kulturminister beginnt seine Laudatio.

Marco lehnt sich wohlig in seinen Sessel zurück. Er hat noch eine Flasche gefunden. Matthias kniet neben einem der Frauenbilder. Ein leichter Wind bläst durch die Dachöffnungen. Die Kerzenflammen werfen gespenstische Schatten auf die dunkelgrünen Bergbilder.

"Nun ist alles bereit, Marco, sie können kommen, morgen um siebzehn Uhr."

Marco füllt sein Glas und murmelt vor sich hin. Matthias ist aufgestanden, tastet sich an der Krücke zum nächsten Bild, stolpert, fällt über einen Kerzenstock. Die brennenden Papierguirlanden illuminieren das brüchigschwere Dachgebälk. Es riecht nach Brandholz, Heu und Kerzenwachs.
Hintermeyer hat den Nachruf geschrieben.