Michael Staub

2006

Zwillinge

von Michael Staub

Vater.

Er geht, ohne sich nochmals umzudrehen. Den Vater, der nie viel Zeit hat, rufen auch heute die Bilanzen. Ich gucke seinen Hosenbeinen nach, die im Wind flattern. Wir haben Bratwürste gegessen, es gibt gemütlichere Plätze für ein Gespräch. An der Ampel stand er konzentriert, wie immer, und ich hätte nicht sagen können, ob er mich erkannte. Lächeln, drei Küsse. Nach langem Zögern doch noch meine Frage.

Er schien erstaunt, wenigstens für einen kurzen Moment. Umfasste seine Uhr, als müsse er sich festhalten. Er schaute lange auf den See, sah dann wieder mich an. Bist du glücklich, hatte ich ihn gefragt. Nicht lauernd, nicht besorgt. Sondern ernst. Ja, dachte ich, er muss Ja sagen. Mein Vater betrachtete den Kiesboden, die Statue. Manchmal, sagte er. Er schwieg, nachdenklich geworden. Wenn ich Ja sage, fuhr er fort, stimmt das nicht. Wenn ich Nein sage, auch nicht. Er sah mich an. Julia, sagte er. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Lebe.

Er schien nicht erstaunt zu sein. Bist du - glücklich?, hatte ich ihn gefragt, ohne Zusammenhang. Ja, sagte er. Im Grossen und Ganzen schon. Warum fragst du? Ich zuckte die Schultern. Nur so, behauptete ich. Vielleicht schreibe ich eine Arbeit. Mein Vater sah mich prüfend an, blickte dann wieder auf den See hinaus. Die Frage hing in der Luft: Und du? Ich zog die Fingerspitzen in die Jackenärmel. Hoffte, fürchtete. Julia, fragte er, ça va? Ich nickte. Eine Möwe schrie. Die Zahnräder meines Lebens schienen für einen Moment stillzustehen. Leider, sagt er, ich muss wieder. Und er geht.

Taucher.

Er geht über den Steg, eilig, als wolle er sich geradewegs ins Wasser stürzen. Die Holzlatten dröhnen unter seinen Schritten. Er sieht, wie in einem Tunnel, die schmale Öffnung zwischen den Geländern links und rechts. Zürich-Bürkliplatz. Vielleicht der falsche Ort für die Sehnsucht nach dem Meer. Die Kette stoppt ihn. Links-Rechts-Links. Seine Schritte verhallen, ratlos blickt er auf den See hinaus, auf den grauen Himmel. Abfahrt der Limmatschiffe jede halbe Stunde. Der Wind. Das Ziehen im Magen, für einmal konkret: die Lust, jetzt in den See zu springen.

Und er springt. Schock, Flug und Eintauchen sind eins. Wasser dringt in die Nase, er verliert seine Gleichgültigkeit. Schlüssel und Erinnerungen versinken im Bodenschlamm. Er kann nicht schwimmen, will aber leben. Er stösst sich vom Grund ab, durchbricht ein zweites Mal die Oberfläche. Wasser in den Schuhen, in den Ohren, selbst in den Hosentaschen. Erstaunte Blicke, als er sich wieder auf den Steg hochzieht. Ihn kümmern sie nicht. Er geht.

Er springt nicht. Natürlich nicht, und während er links und rechts das Geländer umklammert, als wärs ein Reck, überkommt ihn die Lust, doch wenigstens einmal unvernünftig zu sein. Die Bratwurst ohne Senf bestellen, sich an der Kasse vordrängen, in den See springen - warum bloss tut ers nicht? Die kleinen Fluchten sind Vorarbeiten der grossen. Das Zögern in der Warteschlange ist das Zögern im Leben. Eine Möwe kreischt. Er wird etwas tun. Und geht.

Rundfahrt.

Er geht aufs Ganze. Bricht nicht ab, gibt nicht auf. Er bleibt hartnäckig. Der blonde Haarschopf, Abstand fünf bis sechs Meter, hat den kleinen Steg passiert, ist bereits an Bord. Kleine Rundfahrt, Abstecher nach Erlenbach, grosse Rundfahrt. Er weiss nichts und folgt ihr trotzdem, wider Vernunft und Anstand. Sie steigt aufs Oberdeck, geht nach hinten, zum Sonnendeck über der Schweizer Fahne. Er geht an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, setzt sich in die letzte Reihe. Die Plastikstühle sind nicht so bequem, wie sie aussehen. Er muss sie ansprechen. Etwas tun.

Er wagt es. Der unfertige Satz, im Kopf hin und her gedreht, fällt auf den Schiffsboden. Ein Fragment aus Wunsch und Witz, vielleicht auch Peinlichkeit: Endlich bin ich mal auf dem Schiff, statt ihm bloss immer nachzuschauen. Der Haarschopf dreht sich, ein Gesicht wird sichtbar. Alles ist möglich, nichts einklagbar. Das Gesicht ist schön. Sie öffnet den Mund, wird etwas sagen. Das Leben ist frei, in alle Richtungen unbegrenzt, und in dieser Sekunde fällt es ihm ein. Er hat sich nicht rasiert heute morgen.

Er wagt es nicht. Natürlich nicht. Im Nichtstun ist er ganz bei sich. Im Verharren, Ausmalen, im Nicht-Handeln. Trübsinnig starrt er über die Reling. Das graue Wasser, der graue Himmel haben ihr Versprechen nicht eingelöst. Der freie Nachmittag, den er sich konstruiert hat, bricht zusammen. Es zieht. Nächster Halt Thalwil. Er blickt auf den blonden Schopf, beerdigt den Wunschtraum. Das Schiff knirscht gegen die Eichenpfosten, Ketten rasseln. Er kann Kaffee trinken in Thalwil.Er geht.

Ausbruch.

Er geht, er stiehlt sich davon. Zerknüllt den leeren Kaffeebecher in der Hand und verlässt das Haus. Die Pause ist zu Ende, doch niemand wird sein Fehlen bemerken. Hundertzehn Lehrlingsausbilder sind sie, und jeder von ihnen scheint zu wissen, was er tut. Ausser ihm, der spielt. Als wisse er, wie man lebe. Die anderen, in weissen Hemden und gepanzerten Anzügen, lassen sich nichts anmerken. Er sieht auf den See hinaus.

Er weiss, was zu tun ist. Doch was nützt es ihm? Er umklammert das Notizbuch in seiner Manteltasche, das Protokoll seiner Unruhe. Ein Dreijähriger treibt eine flatternde Taubenwolke vor sich her. Lachen und Geschrei. Er stutzt. Jetzt. Er kann beginnen, zu leben, genau jetzt. Mit einer bedächtigen Bewegung zieht er das Büchlein aus der Tasche und wirft es in den See. Den Mantel, die Krawatte, den Füller. Kein Ballast an diesem Nachmittag. Er wird Tauben jagen.

Er weiss nicht, was zu tun ist. Er eignet sich nicht für die souveräne Flucht, den starken Abgang. Vor Jahren, am Hauptbahnhof, hat er den erstbesten Zug bestiegen, ohne hinzusehen. Hat von Milano geträumt, Bordeaux, Hamburg. Er ist in Wetzikon gelandet. Die Nacht im Hotel Krone ... Er seufzt und marschiert gemählich zurück. Das Alter hat ihn ruhiger gemacht. Erst in drei Stunden geht der Zug nach Genua.

Lachen.

Er geht über den Bürkliplatz, die Sonne im Gesicht. Nachdenklich, ernst vielleicht. Autogebrause vom General-Guisan-Quai. Beim Warten erinnert er sich, wie er vor Jahren eine Cabriofahrerin, auf ihren leeren Beifahrersitz deutend, gefragt hatte: Ist da noch frei? Ihr Blick fällt ihm ein, ihr entsetztes Nasenrümpfen, und er grinst. Die Bewegung ist ungewohnt. Kann es sein, dass sein Gesicht das Lachen verlernt hat?

Unsinn, denkt er. Ich bin jetzt einfach erwachsen. Und schon wieder drängt sich das Grinsen auf sein Gesicht. Es muss am retuschierten Wetter liegen. Übermütig springt er die Stufen hinauf. Der See ist enorm, eine einzige Wellenfläche vom Schiffssteg bis zu den Alpen. Er sieht zum Ufer hinüber. Wieder ist da die schlendernde Menschenmenge. Er ahnt Sonnenbrillen und neue Kleider, lächelt. Laufsteg Utoquai. An einem Tag wie heute kann er sich zeigen. Er geht.

Ja, denkt er, kein Wunder. Ich sollte in einer Lachgruppe mitmachen. Der Körper, hört man, merkt nicht, ob das Lachen echt ist oder nicht. Und während er an der Ampel wartet, hat er die Vision einer flächendeckenden Pflichtlachgruppe. Ein grosses, immer lauteres Lachen über der ganze Stadt. Lachende Trambesatzungen, lachende Gemüseverkäufer, lachende Dealer, lachende Wegmeister. Es wäre wenigstens mal was anderes. Die Ampel springt um. Er geht.