Rosa Rigendinger
2002
und rhythmisch atmen die läufer
von Rosa Rigendinger
gutes brot heisst authentisches brot inzwischen. das gibt es nur an
strategischen punkten der stadt. ich kenne einige. vor mir HAMBURGER
CONTRE LA ROUTINE. in hohen stiefeln wäscht der kleine mann die
kachelböden bei QUICK. draussen das pantheon.
KATHAMI. zum pantheon. die polizisten stehen spalier. neue uniformen,
sie werden us-amerikanisch. sie sind klein. ich durch die korridore der
blauen. geräte, pistolen, funk, telefon, helm, visier. der breit
glänzende reissverschluss überm geschlecht. körperschutzvorrichtungen
überall. auf wen warten sie? waffen, knüppel. ein ziviler schlägt
lastwagenfenster ein. das gefährt wird fortgeschoben. wo ist der feind?
wen schützen sie? das volk grinst und kommentiert. tote tiere karrt der
metzger in weiss über die leere chaussee. gänseköpfe schleifen auf dem
pflaster. der iranische präsident besucht die toten im pantheon. ich
warte. die strassen sind abgesperrt. es dauert. dann plötzlich die
ausserirdischen. hundert blaue karossen, motorräder, viel zu schnell.
kein Gesicht. der makel: das farbei auf der präsidentenlimousine. rechte tür vorn. scharfgelb auf dunkelblau. um die ecke geht der
schriftsteller ismaïl kadare. stets beige-brauner mann mit schwerer
brille. wo korrigiert er seine texte, seit das alte ROSTAND verschwunden ist, wo wir sonntags früh seite an seite sassen, er konzentriert, ich
auswärts gestülpt. neugierig auf die unverständlichen korrekturen mit
rotem bic, die der romancier vorsichtig auf seine blätter schrieb. was
denkt dieser albaner, der sich in der stadt nie umsieht? wes brot isst
er? was ist sein auftrag?
BOCCA DELLA VERITA. der auftrag? wo verläuft die front? die öffnungen
des lanzenbewehrten parks sind an solchen tagen aufs minimum reduziert.
george sand, hier hausfrau in stein, spricht nicht, die marmorene bocca
gegenüber auch nicht. in meinen plastiksäcken GIBERT JEUNE trage ich
tausend blätter druckerpapier. vorbei an den vollen, abgewetzten
plastiksäcken des obdachlosenpaars. ein mann und eine frau auf stühlen.
es ist kalt. GOLDENER HERBST. im gezopften haar der frau weisse
wollmäuse. essen sie brot? sprechen sie im morgennebel? rhythmisch atmen um mich die läufer.
FUMETTI. atmen die läufer. die khakibäume voller früchte. hier sitzt
morgens der bettler unter der kastanie vor der hochgestellten büste
baudelaires. seit tagen liest er andächtig bunte comics für kinder. das
sehen die läufer nicht. aber-
GANZE TAGE IM PARK. mit schrift zugange, um denen unter den denkmälern
ein denkmal zu setzen. denen, die am längsten dort sitzen. ganze tage
schlafen bei jedem wetter. jede, jeder am ausgewählten ort. für sich. so die schläferin auf der estrade unter den königinnen, den senat zur
linken, die kuppel des pantheons vor sich, das observatorium fern zur
rechten, nah das grosse bassin mit karpfen und segelschiffchen, rote
blumen noch um die rasenstücke. die kastanien fast blattleer. scharfer
nordostwind, kalte sonne. wovon träumt sie dort auf dem metallenen
stuhl? im speckigen mantel, schwarzer schal. vor sich reisetaschen und
plastiksäcke. nie sieht man den inhalt. diese tüten sind immer gebraucht und achtsam gepackt. zusammengesunken hängt sie zur seite. zuoberst das blonde haar, unten die weissen socken, turnschuhe abgestreift. wo
wäscht sie sich, wo war sie diese nacht, wer ist sie? wie alt? welches
gesicht? jetzt wacht sie auf, schaut zur senatsuhr, drückt sich tiefer
in die kleider, schläft wieder ein. es ist 14.05.
SIE IST KÖNIGIN UND WILL KEIN VOLK. heute trägt die bewohnerin von st.
placide die krone, das gelbe plastikband ums haar. heute prostet sie mir zu. sie sitzt in den hauseingängen. nachts liegt sie vor der apotheke,
auf den stufen der metro. sie lacht. sie ist schön. sie ist so alt wie
ich. als es wärmer war, stieg ich um mitternacht oft über sie die
u-bahntreppe hoch. sie schlief dort, die hand auf dem nackten bauch,
kopf eine stufe tiefer. manchmal bittet sie um eine zigarette. manchmal
kauert sie verletzt unter einer blitzenden messingpforte. am u-bahnhof
nachts die abwässer der metzgerei. über tag duftet es nach rosmarin,
gegrillten hühnern und braten. FEM FRISSON 3615 LYDIA steht auf dem
plakat über der schlafenden.
TAPEZ 3615 FILLETTE. diese schlafende weiss nichts vom hinterhaus einen
block weiter. zwanzig fenster, zimmer mit figuren aus balthus' bildern.
abschied der zeit. kirchengesang, hibiskus, vogelruf, rosen,
glockenläuten. marmorkamine und goldene spiegel. im hof zwischen
kapelle, speisesaal und gartenhaus die geschäftigen nonnen, darüber
steht immer irgendwo eine junge frau vor dem spiegel am offenen fenster. morgens. abends anders als früh. als ob sie allein auf der welt wären.
sie spiegeln sich, die gesten ihrer vorgängerinnen, der bilder. und
asiatinnen. wie sie sich kämmen, drehen, parfümieren und schminken
zwischen hand- und kaminspiegel, wie sie sich cremen, pudern, an- und
ausziehen. allein. abends sieht man sie in gruppen auf den betten
sitzen. laut singen, tanzen, lachen. ein fenster weiter, einen stock
höher oder tiefer die studierenden, die ernsten am tisch, blick ins
buch, verloren in der ferne. im turmzimmer nachts am fenster das blonde
mädchen mit handy.
NOLI ME TANGERE. zuerst sehe ich die füsse, nackt in weissen sandalen,
wund und schwarz. bei mac donalds setzt sich die durchnässte frau mit
langen, dunklen haaren, dem auf der haut klebenden nylonmantel an den
nebentisch. leere augen. sie sieht mich an, hält sich dabei die ohren
zu. ich esse, sie starrt mich an, hält sich krampfhaft die ohren zu. hat sie hunger? sie wippt sanft mit dem ganzen körper. ich stehe auf und
frage, haben sie hunger? sie schweigt. ich lege geld für sie auf den
tisch und gehe zur toilette. später verlasse ich das lokal. sie sitzt in der gleichen haltung da, das geld unberührt. sie schaut mich nicht mehr an -