Stefanie Erdrich

2008

Gefangen an Orten

von Stefanie Erdrich

Ausgerechnet mit dem Kind in ihrem Leib hatte sie fliehen wollen. Nur sieben Wochen bis zur Geburt, doch diesmal war die Entscheidung endgültig. „Wir gehen weg von hier“, sagte sie laut zu dem Kind. „Wir – gehen – weg.“ Endlich wollte sie wagen, eine Wohnung zu nehmen in ihrer alten Heimatstadt. Doch dann überfielen sie Schmerzen in ihrem Bauch. Obwohl es heute in ihr so still gewesen war. Sie war alleine im Haus, eine Flucht in Abwesenheit ihres Mannes. Atmen, sie erinnerte sich an die Worte der Hebamme, ruhig atmen. Sie rief ein Taxi, vielleicht nur Fehlalarm. Es waren noch sieben Wochen bis zur Geburt.

Die Hebamme suchte und suchte nach Herztönen. Auf dem Ultraschall sah der Arzt kein Lebenszeichen. Sie fanden nichts, weil nichts mehr da war. Ob sie ihren Mann verständigen wolle. Die Wehen wurden stärker. „Nein“, sagte sie, „Nein“. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Schmerzen ja, doch nicht solche, so etwas nicht. Geburt, so weit war sie noch nicht. Eine Geburt soll Leben bringen. Sie musste dieses Kind gebären, mit dem Wissen, dass nichts Lebendes dabei herauskommen würde. Sie ekelte sich vor diesem toten Ding in ihrem Bauch. Was für eine Mutter war sie, deren Kind schon im Entstehen aufgab, in ihr drin. Dabei war es gewachsen, genau wie andere Kinder. Ihr Puls und sein Puls, ihr Blut und sein Blut waren Eins gewesen. Ihr Herzschlag und seiner. Wie konnte es sein, dass es einfach aufgehört hatte? Und ihr Körper machte weiter, als sei nichts geschehen. Ausgerechnet an diesem kalten, gekachelten Ort würde sie aufhören, diese Verbundenheit zwischen ihr und dem Kind. Es gab kein „wir“ mehr. Es gab nur ein Kind, das aufgehört hatte, in ihr drin. Es war allein in der Dunkelheit, es traute sich nicht, die Anstrengung, die Schmerzen auszuhalten. Und das Kind beschloss, es sein zu lassen. Wie konnte ein Kind einfach beschließen, es sein zu lassen? Niemand gab ihr eine Erklärung dafür. Sie hätte sich gerne an etwas festgehalten, wenigstens irgendein Anzeichen dafür, dass es nicht ihre Schuld war.

Koffer ein- und wieder ausgepackt. Zu oft in den letzten Jahren. Immer wieder war sie gegangen und zurückgekehrt. Dann stand ihr Koffer unausgepackt, tagelang neben ihrem Schrank in ihrem Schlafzimmer. Nach jeder missglückten Flucht, nach jeder Rückkehr lag ihre Kleidung, zusammengefaltet, zerknittert, unberührt. Der Koffer verschlossen, als könne sie ihre Entscheidung zu gehen darin aufbewahren. Der Koffer blieb unausgepackt. Sie trug so lange Kleidung, die noch im Schrank hing, bis nichts mehr da war. Weit entfernt von diesem Ort voller Kindheit. Es war ihr nie klar gewesen, wie verwurzelt man an einen Ort sein konnte. Sie sehnte sich nach ihrer Stadt, die in keinem Reiseführer stand, weil sie nicht schön war. Sie ging erst zurück in das Dorf, wenn ihre Schwester sie wegschickte. Weil sie nicht endlos in deren Familie wohnen konnte und nicht wusste, wohin sonst. Den Mut alleine zu sein, fand sie nicht. Nicht mal in den vertrauten Straßen, in denen sie aufgewachsen war. Die sie verlassen hatte, sechs Jahre zuvor, einem Mann zuliebe, sich selbst zuliebe. Warum nur hatte sie sich nie gewöhnen können an das Liebliche, an die Ruhe, die Menschen. Beobachtet fühlte sie sich, keine Kraft hatte sie, Kommentare abzuwehren. Sie verhielt sich anders als die, die hier geboren waren. Ihr Mann begann es ihr vorzuwerfen, obwohl er so viel Geduld mit ihr hatte. Schrecklich viel Geduld. Es war friedlich, das hatte sie gedacht bei ihrem ersten Besuch auf dem Dorf. Er hatte geschwärmt davon, dass alle sich kennen, dass es dieses anonyme Großstadtgefühl nie wieder geben würde. Sie träumten gemeinsam, dass ihre Kinder hier aufwachsen würden, an diesem sicheren Ort voller Wiesen und Blumen. Gut, wenn Kinder Kühe und Hasen und Bäume nicht nur aus Büchern kennen. Doch es hatte keine Kinder gegeben, denen sie all das hätte zeigen können, dem all das eine Heimat geworden wäre.

Was für ein Wort, „Ausgeschabt“. Als sei sie eine Frucht, deren Inneres man herausnehmen könnte. Das Kind war ein Teil ihrer selbst, ohne den ihr Körper überleben konnte. Wäre es in ihr geblieben, würde sie dahinsiechen. Weil Totes, eingeschlossen in Lebendiges, das Lebende tötet. Einfach aufhören. Hatte sie nicht auch schon daran gedacht? Als sie die Münze auf die Schienen legte. Wie ein sichtbares Zeichen dafür, was mit allem passiert, das unter diese Räder kam. Sie hatte den reißenden Fahrtwind des Zuges in ihrem Gesicht, an ihrem Körper gespürt, dann nach dem Metall gesucht wie ein Goldgräber. Gefunden, platt gewalzt. Seitdem hatte sie die Münze bei sich getragen, es war ihr Trost, der Fahrtwind hatte ihren Körper berührt.

Als sie endlich schwanger geworden war, vor sieben Monaten, hatte er ihr das Versprechen abgenommen. Dass sie nun bleiben würde bei ihm auf dem Land. Sie war eine Außenseiterin, fürchtete sich vor den Blicken und dem Wissen um alles, was sie tat. Sie sehnte sich nach der Stadt. Nach den Straßen voller Menschen, in die sie eintauchen konnte. Versunken im Schutz der namenlosen Gesichter. „Ich werde nie wieder allein sein“, das hatte sie gedacht. Sie hatte ihm das Versprechen gegeben, damals, mit dem Kind in ihrem Bauch.

Jetzt gab es kein „wir“ mehr. Sie zählte Kacheln hoch und quer, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie grün oder blau waren. Alleine auf einer Pritsche in diesem Raum. Gut sauber zu halten von Keimen, von Blut. Leicht abwaschbare Kacheln und Chrom. Durch die Schiebetür hörte sie die Stimme ihres Mannes, der mit dem Arzt redete. Er war gekommen, nichts blieb verborgen in diesem Dorf. Schon gar nicht eine hochschwangere Frau, die in ein Taxi stieg. Sie wollte ihn nicht sehen und doch - was hätte sie darum gegeben, nicht alleine zu sein. Sie zählte die Kacheln. Wenn sie den Faden verlor, fing sie von vorne an. Immer rechts, gleich neben der Tür, begann sie mit der Eins. Eins, ihr erstes Kind. Damit fing alles an und damit hatte es schon aufgehört. Sie lag und zählte, ihre Kleidung ein weißes Laken, festgeknotet in ihrem Nacken. Herausgepresst das tote Kind.

Sie hörte ein schleifendes Geräusch, die Schiebetür öffnete sich langsam und er trat ein. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er sich näherte. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Wie in Watte eingehüllt fühlte sich ihr Kopf an, ihr Körper. Ihre Augen hafteten auf diesem Grün oder Blau. Er setzte sich an ihr Bett und legte seinen Kopf an ihre Schulter. Sie würde ihm sagen müssen, dass zu Hause der Koffer stand. Gepackt für sie, für das Kind. Ihr Kind. Nie hatte sie daran gedacht, dass es auch so kommen könnte. Sie war nicht darauf vorbereitet. Einfach aufhören zu sein. Sie war ausgehöhlt wie eine faule Frucht. Das Loch, wie sollte es zuwachsen, das Kind hatte etwas mitgenommen aus ihr, sie war nur noch teilweise da, etwas von ihr war gestorben. Der Tod ihres Kindes, noch ehe sie Mutter geworden war. Sie war ein Nichts, nicht schwanger, nicht Mutter. Und doch Mutter von diesem Ding, diesem Kind, herausgeschabt, ausgeschnitten aus ihrem Bauch. Wohin war es gegangen? Wollte sie nicht auch längst schon weg sein? War es alleine? Sie war alleine. Sie musste es aushalten. Da waren sie wieder, die Arztworte. Nicht lebensfähig. Lebensfähig, wer war das schon, es gab genug Menschen, die lebten und waren nicht fähig dazu.

Es war friedlich in ihr. Jetzt, in diesem Raum, mit ihrem Mann an der Seite, kam dieser Gedanke. So friedlich wie in einer toten Landschaft.
„Wo ist es?“, fragte er. Sie wusste es nicht. Sie hatte es nicht sehen wollen. Es war kein Kind, es hatte nicht ihr Kind werden wollen. Sie war zurückgeblieben, ohne den Teil in ihr, es war weggeflogen. Weg das Kind, sie konnte nicht denken. Nur die Kacheln zählten in ihrem Leben. Wer war dieser Mann, der ihr das Versprechen abgenommen hatte. Zu Ende seine Geduld. Er wolle ihn nie wieder sehen, diesen Koffer. Nicht länger ertragen, ihre Flucht. In ihrem Schlafzimmer, an diesem Ort, wo sie gemeinsam gewohnt hatten, stand der Koffer mit ihren Sachen. Heute Morgen hatte sie sich entschieden. Nun saß er neben ihr, sah sie an. Im Aufstehen wischte er sich über sein Gesicht und ging Richtung Tür. „Ich will es sehen“, sagte er. Sie wollte protestieren, doch ihre Zunge war ein Wattebausch, der Körper Eins mit der Pritsche. Das Laken klebte an ihr, aus dem Haaransatz rollten Schweißtropfen auf ihre Stirn. Die grün-blauen Kacheln waren Bedrohung, die Flurstimmen wurden lauter. Seine Schritte nicht zu hören auf dem gekachelten Boden. Sie hatte sich entschieden an diesem Morgen und sie musste es ihm sagen. „Warte“, flüsterte sie, er drehte sich um. Vor welcher Einsamkeit hätte sie sich jetzt noch fürchten sollen.