Ruth Wittig
Reichengasse
von Ruth Wittig
„Ein Bijou“, hatte der
Makler zu ihr gesagt, „genau das Richtige für Sie“. Als sie das Objekt
besichtigt hatte, war strahlender Sonnenschein gewesen. Der Makler, der
vor ihr gekommen war, hatte alle Lampen angezündet und die
Sprossenfenster aufgerissen, weisses Winterlicht strömte herein. Er
führte sie herum, als habe er die Wohnung eigens für sie bauen lassen.
Drei Zimmer auf zwei Etagen, Wohnküche, Terrasse, alles neu renoviert,
das Bad sei gefangen, ma foi, er hob die Hände, aber schwarz gekachelt
und es habe ein Bidet. Sie könne sofort einziehen. Erminia entwand sich
seinem Blick, den er wie eine schwere Hand auf ihren Körper gelegt hatte und trat ans Fenster. Sie hatte ihre Zweifel, ob dieser Mann wusste,
was das Richtige für sie war, aber der Ausblick verzauberte sie und
ausserdem, was sie ihm nicht sagen würde, hatte er in diesem Punkt nicht unrecht. In den ehemaligen Patrizierhäusern der Reichengasse wohnten
die, die es auf der richtigen Seite des Lebens zu etwas gebracht hatten: muntere Singles oder unkonventionelle Patchwork-Familien,
Kunsthandwerker, Kulturleute und linksliberale Politiker. Berlin-Mitte
oder Greenwich Village, nur in kleinerem Mass-Stab, à la Suisse eben.
Man traf sich samstags auf dem Markt oder zum Espresso bei Frédéric, die Männer trugen farbige Hosen und ihre Haare, falls sie welche hatten,
standen genau im richtigen Winkel vom Kopf ab. Der Gipfel entspannter
Perfektion, fand Erminia. Aber das, was letztlich den Ausschlag gab, war die Aussicht: der Blick auf den Fluss, der sich im Lauf von
Jahrtausenden in die Sandsteinschichten eingefressen hatte, die mittlere Brücke, den Treppengiebel der Kommandantur und die Ziegeldächer der
unteren Altstadt, die noch vor siebzig Jahren, als ihre Grosseltern in
die Stadt gekommen waren, ein Problemquartier gewesen war mit
drangvoller Enge und katastrophalen sanitären Zuständen und wo Wohnraum
heute zu Phantasiepreisen gehandelt wurde. Die Reichengasse, nomen est
omen, war schon immer ein Edelquartier gewesen. In den Wohnungen der
Reichengasse hatte ihre Mutter saubergemacht. Santo cielo che casino,
hatte sie gesagt, wenn sie nach Hause gekommen war, und wenn das Kind,
das es mal besser haben sollte, sie begleiten durfte, hatte es sich
gewundert, dass die Schweizer, die ihrer Mutter Arbeit und Lohn gaben,
so wenig Möbel hatten. Sie erinnerte sich an Bücher, Bilder,
staubbedeckte Lautsprecherboxen und Zimmer mit zweifarbig gemusterten
Holzböden, in denen, wie beim Zahnarzt, nur eine Lampe und eine Liege
standen. Am Hang gegenüber sah sie weidende Schafe, die Steilwand mit
der Loretto-Kapelle obendrauf und dahinter die Berge. Erminia hatte
nicht lang überlegen müssen. Der Mietzins war hoch, aber das konnte sie
sich leisten und ausserdem war es Zeit, zuzupacken, wenn es im Leben
etwas zu packen gab.
Im Dezember fand sie einen Nachmieter für ihre Blockwohnung. Den
Weihnachtsmonat verbrachte sie mit glücklichen Vorstellungen, und nach
den Ferien, als sie die Kaution hinterlegt hatte, nahm sie die Schlüssel in Empfang. Die Wohnung gehörte ihr. Die teppichbelegten Stufen, die
vom Eingang auf der Reichengasse drei Stockwerke nach unten zu ihrer
Wohnungstüre führten, dämpften jeden Schritt, was angenehm war, solange
die Möbelpacker hin und herliefen, aber mit der Zeit etwas Beklemmendes
bekam. Wenn sie das Haus betrat und lautlos zu ihrer Wohnung herabstieg, die auf der Rückseite des Hauses lag, schien sie vom Erdboden zu
verschwinden, die Spuren ihrer Existenz vom Teppich getilgt. Am Anfang
hatte sie Pläne, ihre kleine Terrasse mit Holzplanken auszulegen, die
Plastikstühle, die der Vormieter hinterlassen hatte, durch Metallmöbel
zu ersetzen und Pflanzen in Kübeln zu halten. In einem Gartenkatalog
fand sie Geissblatt und Jasmin, ein Orangenbäumchen, Lavendel und
kleinblättriges Basilikum aus Griechenland; sie stellte sich den Duft
vor, den Blätter und Blüten entfalten würden, morgens, wenn sie im Licht der ersten Sonnenstrahlen vom Nachtdienst nach Hause käme. Bereits im
Februar sass Erminia draussen, obwohl sie nicht rauchte und es somit
keinen Grund gab, draussen zu sitzen. Es war kalt. Sie sass auf dem
Plastikstuhl, eigentlich war er gut genug, er war nicht unbequem.
Manchmal rief ein Vogel, Hunde bellten oder es schrie ein Kind in der
Ferne. Der Verkehr auf der Alpenstrasse schwoll an und ab und irgendwo
im Umkreis wurde immer gebaut. Restaurierungslärm: schwaches Hämmern und Klopfen, das Sirren einer Bohrmaschine, Erminia stellte sich das
vorsichtige Abtragen von Farb- und Mauerschichten vor, conserver le
patrimoine, ja und die Kirchenglocken, sie war von Kirchen geradezu
eingekreist: das kraftvolle Brausen von Saint-Nicolas und das helle
Gebimmel der Augustinerkirche, Saint-Jean, der immer ein bisschen zu
spät dran war und die schwachen Töne, die der Wind von den
Kapuzinerinnen auf dem Bisemberg herübertrieb.
Im Grunde genommen war es ein Gefängnis, ihr Bijou, ein komfortabler
Käfig mit vergittertem Freigehege, durch Schilfmatten vor Blicken
geschützt. Die Brandmauer des Nebenhauses, die turmhoch neben ihr
aufragte und die Terrasse zur Linken begrenzte, war in Bodennähe bemoost und von wolkigen Flecken durchzogen, die im Lauf der Zeit ihre Form
veränderten wie richtige Wolken, nur langsamer, wie es sich für ein
Gefängnis gehört, in dem das normale Zeitempfinden ausser Kraft gesetzt ist. Auch das Küchenfenster und die Terrassentür waren durch
Gitterstäbe gesichert, ein solider Metallrahmen war in den Türsturz
eingelassen, er trug gitterne Flügeltüren, mattschwarz gestrichen. Keine Spuren von Rost, noch nicht. Drei Stufen, mit Kiesfliesen belegt,
führten in die Wohnküche; manchmal, wenn sie nach Hause kam, lagen
Vogelfedern dort. Auf dem Balkon vier Stockwerke über ihr wurde ein
Läufer ausgeschüttelt.
Als es wärmer wurde, merkte Erminia, dass sie nicht allein war. Jenseits der Schilfbarriere war eine Bank, eine öffentliche Bank, die zu einem
kleinen Park gehörte, wenn man es so nennen konnte. Es war eine
bescheidene Grünanlage, die von Männern in orangefarbenen Westen geharkt und aufgeräumt wurde, auf zwei Etagen verteilt wie Erminias Wohnung,
kiesbestreut, die Beete mit niedrigen Sträuchern bepflanzt. Auf dem
unteren Plateau waren ein paar Spielgeräte installiert worden. Ein Zaun
aus geflochtenen Stahlseilen, die an schwarzgestrichenen Pfeilern
festgezurrt waren, begrenzte das Gelände. Auf dieser Bank, die
vielleicht fünf Meter entfernt war und die Erminia sehen konnte, wenn
sie auf der obersten Treppenstufe auf den Zehenspitzen stand oder wenn
sie sich aus dem Schlafzimmerfenster lehnte, begann sich im Lauf des
Frühlings ein Leben zu entfalten. Liebesgeflüster, Haschischwolken, das
Zirpen von iPhones, an Ostern eine ganze Familie mit kleinen Kindern
beim Eiersuchen; wie schnüffelnde Tiere wühlten sie im Unterholz,
nachher stritten sie sich und weinten, weil eins von ihnen einen
Zuckerhasen zertreten hatte. Erminia verhielt den Schritt im Türrahmen
und wartete, die Teetasse in der Hand, bis sie weg waren. Noch lange
drangen ihre Stimmen vom unteren Teil des Parkes herauf; wahrscheinlich
rannten sie dort herum oder schaukelten auf den Holztieren, mit Mündern
voll Schokolade. Am Nachmittag kam Wind auf. Ein Fetzchen Silberpapier,
rund wie das Ei, das es umhüllt hatte, kreiselte über die Tischfläche
und kam am Rand der Wasserflasche zur Ruhe.
Als die Bäume belaubt waren, erreichte die Sonne Erminias Terrasse nicht mehr. Die Jasminblüten, schneeig weiss und zart, gaben kaum Duft und
die Aussicht verschwand hinter den Baumkronen. Das Spiel der Blätter war schön, sie zitterten und zeigten ihre silbrigen Rückseiten. Auf der
Bank, die ein paar Meter weiter in der Sonne stand, sass ein Mann.
Erminia hörte das Scharren seiner Schuhe auf dem Kies und roch den Rauch seiner Zigarette. Balkan, dachte sie, als sie vom Fenster des ersten
Stocks aus hinausgespäht hatte, Albanien. Er sah aus wie die Männer, die auf niedrigen Schemeln in der Fussgängerzone sassen und ihr über den
Rand des Akkordeons hinweg „Bonjour Madame“ zuriefen, wenn sie
vorbeiging und so tat, als hätte sie nichts gehört. Er war fast immer
da, zu den verschiedensten Tageszeiten: nachmittags, wenn sie aus
unruhigem Schlaf erwachte, gegen Abend, wenn sie zur Nachtwache aufbrach oder vom Tagdienst zurückkehrte und an den Tagen, an denen sie frei
hatte und im Lauf des Vormittags mit der Kaffeetasse auf die Terrasse
trat. Meistens war er über sein Handy gebeugt und manchmal sprach er in
einer fremden Sprache hinein, aber meistens sprach er nicht. Im Lauf der Zeit musste Erminia nicht mehr aus dem Fenster sehen, um sich seiner
Gegenwart zu vergewissern. Sie konnte seine Gestalt und seine Geräusche
durch die Schilfwand hindurch wahrnehmen, deren Halme in der Hitze
brüchig und durchlässig geworden worden. Solange er da war, kam niemand
anderer, keine kichernden Liebespaare mit plärrender Handymusik oder
Gruppen von Jugendlichen, die Worte und Sätze mit Überdruck aus sich
heraussprengten und vor denen Erminia Angst hatte; wenn sie sprachen,
klang es wie ein Feuergefecht. Der Sommer war trocken und heiss. Sie
holte sich zu trinken und setzte sich auf den Plastikstuhl, sie zerrieb
Basilikumblätter zwischen den Fingern, der Rauch seiner Zigarette wehte
herüber, sie trank Wasser in grossen Schlucken. Manchmal ging er weg und kehrte zurück, sie hörte ihn Dosen aufreissen; einmal, an einem
Sommerabend, hörte sie ihn singen. Sie überlegte, ob sie selbst Musik
abspielen sollte, aber sie wusste nicht was, nichts schien passend zu
sein, und als er weitersang, leise und eintönig, ging sie ins Haus und
schloss die Tür. Im August, als sie eine Woche freihatte, wurde die
Hitze unerträglich. An Schlafen war nicht zu denken. In der vierten
Nacht rollte Erminia ihre Matratze zusammen, trug sie auf beiden Armen
die steile Wendeltreppe hinunter und legte sie in der Küche auf den
Steinboden, die Terrassentür liess sie offen, die Gitterflügel
angelehnt, er war da, sie fühlte sich sicher. Im grünen Licht der
Dämmerung erwachte sie vom Rauschen des Regens, kühle Luft floss herein.
Nach den Ferien kam ein neuer Oberarzt auf ihre Station, er hiess
Mazzoletti. Er hatte eine zuvorkommende Art und stellte ihr viele
Fragen, die sie gewissenhaft beantwortete. Beim Frührapport nannte er
sie seine rechte Hand, und Erminia gestand sich ein, dass sie mit seinem Kommen und mit seinem Namen eine Erwartung verknüpft hatte, die sich
nicht näher bezeichnen liess, aber die in der Entwicklung der Dinge eine Entsprechung fand. Die Pflegeleiterin sprach davon, sie für ein paar
Wochen beim Nachtdienst ablösen zu lassen, damit sie ihm assistieren
könne. Das Wort „stellvertretende Stationsleitung“ lag in der Luft.
Erminia besorgte sich Karten für eine Theateraufführung im neuen
Schauspielhaus, Metamorphosen hiess das Stück, es war ziemlich
kompliziert. Eine Kollegin kam mit und in der Kaffeepause erzählten sie
davon. Sie kaufte eine Espressomaschine und zwei neue Kopfkissen. Im
Oktober fiel ihr auf, dass der Mann auf der Bank nicht mehr da war. Eine Abwesenheit, die in dem Moment, als sie ihrer gewahr wurde, schon lange zu bestehen schien, sie hatte es nur nicht gemerkt. Er war weg und auch sonst war niemand da, die Bank blieb leer. Tage und Nächte wurden
frischer und mit der Abkühlung wurde ihr Schlaf tiefer.
Eine Woche später ging Erminia nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern in den kleinen Park zu der Bank und setzte sich hin. Es war eine Bank
aus grau verwitterten Holzlatten, auf der Sitzfläche ein Loch mit
Brandrändern. Erminia vermied, sich drauf zu setzen, als könne es sie
verletzen oder ansengen. Es war ein schön geformtes, ovales Loch und so
gross wie eine Mango, eine thailändische, gelbe oder wie eine Avocado,
diese kleine Sorte, die Hass heisst und deren Schale fast schwarz ist,
die würde vielleicht durchpassen. Wie lang es wohl dauern mochte, eine
solche Narbe ins Holz zu brennen? Auf dem obersten Balken der
Rückenlehne war Ville de Fribourg ins Holz gestanzt und daneben war ein
heller Fleck, ein gut umgrenzter, rechteckiger Fleck: ein Stück
Isolierband mit dem Kugelschreiberwort RUSKOV. Ruskov. Ein Name? Eine
Botschaft? Erminia wandte den Kopf nach links und nahm ihre Terrasse in
Augenschein. Das Schilf war bräunlich und trocken, an manchen Stellen
fast schwarz, sie konnte die Umrisse ihres Tisches und die Lehne des
Plastikstuhls ausmachen. Da hatte sie gesessen und der Mann hatte sie
gesehen, so wie sie ihn durch den Schilfparavent gesehen hatte, eine
Gestalt, die sich manchmal bewegte, aufstand, verschwand, wiederkam, ein Glas auf dem Tisch absetzte und er hatte nicht reagiert, so wie sie
nicht reagiert hatte, nie. Wochenlang hatten sie auf der Rückseite der
Reichengasse nebeneinanderhergelebt und jetzt war er weg und sie war
noch da. Erminia stand auf und trat an den Schilfzaun heran, sie
streckte eine Hand aus und drückte die Halme auseinander, wenn sie sich
reckte, konnte sie über den Zaun hinweg auf ihre Terrasse sehen, hatte
er das auch gemacht, wenn sie nicht dagewesen war und hatte er gesehen,
was sie jetzt sah, die Tischdecke aus Wachstuch mit der Karaffe, die
seit langem draussen stand und sich mit Regenwasser gefüllt hatte, den
angelaufenen Zinnkrug, mit dem sie ihre Topfpflanzen goss, das
Orangenbäumchen und die trockenen Rispen des Lavendelstrauches, er war
schon lange verblüht. Ihre Terrassenschuhe, klobige Clogs, ein
Gartenhandschuh und die kupferne Topfkralle, Utensilien, die sie vor
einem halben Jahrhundert angeschafft hatte, sie hatten irgendwie
überdauert, Zeugen einer vergangenen Epoche, und standen wahllos
nebeneinander, das Arrangement gab keinen Sinn. Der umzäunte Raum, der
ihre Terrasse war, sah leer und verlassen aus, hier lebte niemand. Das
Geräusch der Schritte auf dem Kies nahm Erminia erst wahr, als es ganz
nah war. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht des
Quartierpolizisten, den sie vom Sehen kannte, weil er ihr manchmal
mitten auf der Strasse mit einem seiner Kollegen entgegenkam, Stiefel,
Kappe, die sportliche blaue Uniform der Stadtpolizei. Er hatte einen
schmalen Kopf, braune Haut und braune Lippen, auch er war nicht von
hier. Jetzt stand er am Rand der Bank und beobachtete sie aus schwarzen
Augenschlitzen. „Suchen Sie etwas, Madame?“ Sein Ton war höflich, aber
bestimmt. Als sie nicht antwortete, tat er einen entschiedenen Schritt
in ihre Richtung. „Was machen Sie hier, Madame?“ „Nichts“, sagte
Erminia. Sie ging ohne Eile auf ihn zu und an ihm vorüber zu der Treppe, die nach oben und aus dem Park hinausführte. „Nichts“.