Urs Mannhart
Hürlenen
von Urs Mannhart
Erster Entwurf zum Beginn einer sehr langen Erzählung
Hürlenen, jenes Dorf, oder die paar Häuser, die versuchen, ein Dorf zu
machen, liegt in der alpinen Welt des Vertikalen wie auserwählt auf
einer fussballfeldgrossen Hochebene. In drei Berner Oberländer
Himmelsrichtungen fallen steingraue Felswände schroff von der Hochebene
ab, und lassen vom Hürlenibach in der Hürlenischlucht nur ein fernes
Tosen und Schäumen übrig, das für den, der unten steht, bedrängt von
Felsriesen und über sich nicht mehr als eine Handvoll Himmel, als
durchdringendes Donnern in den Ohren liegt; ein Donnern, das die
Vorstellung von Steinschlag, Erdrutsch und Lawinen, von allem, was hier
ungefragt und an allen Schutzvorrichtungen vorbei in die Schlucht nieder fährt, lebendig hält.
In der vierten Himmelsrichtung erhebt sich die Hürlener Hochebene
allmählich zu der von sumpfigen Abschnitten durchsetzten Hürlenialp,
steigt immer steiler und unwirtlicher gegen die Zunge des wachsenden
Hürlenigletschers vor und überträgt schliesslich Macht und Ausstrahlung
der hier unbesiegbaren Vertikalen, indem sie sich zum Gipfel des
Hürlenihorns hochschwingt, einem kaum bestiegenen Zweitausender im
mittleren Simmental.
Allerdings muss strittig bleiben, ob Hürlenen überhaupt dem Simmental
zugerechnet werden kann. Die auf dieser Ebene zusammengerafften
Behausungen und Schuppen liegen nämlich in einem unvergleichlich schwer
erreichbaren Seitental eines Seitentals des Simmentals, zwischen
Boltigen und Zweisimmen, und auch der Ausdruck "Seitental" klingt zu
prominent, lässt Breiteres und Längeres erwarten, als es Hürlenen
bietet, und der Taleingang zu diesem Hürlenital liegt derart verborgen,
derart eng und derart unscheinbar in der Landschaft, dass es im Dorf
heisst, dieser Flecken Land sei bei der Alpenfaltung erst vergessen und
übergangen, ja überfaltet worden, und habe nachträglich, obschon kein
Platz mehr war, zwischen bestehende Bergspitzen und Täler hineingezwängt werden müssen. Als General Henri Dufour Mitte 19. Jahrhundert mit
Bleistift und Notizpapier durch die Schweiz zog, um diese in einem
Kartenwerk von bisher ungekannter Genauigkeit fassbar zu machen, musste
er den kaum bleistiftbreiten Taleingang nach Hürlenen übersehen haben.
Denn von diesem Flecken Land fehlt auf der ersten Landeskarte jede Spur, und dass die paar Behausungen, der Hürlenibach mit dem Hürlenischuss,
das Sumpfgebiet der Hürlenimöser, der Hürlenitungel, der Hürleniwald,
die Hürlenialp, der Hürlenigletscher sowie das Hürlenihorn - dass all
diese Namen auch heute noch auf keiner Karte eingetragen sind, ist einer jener in ihrer Anzahl gewiss unterschätzten Beweise, dass das Gerede
von genauen Luftaufnahmen, auf denen die heutigen Landeskarten
basierten, bloss eitler Tand und Mumpitz ist. Wahr ist vielmehr, und das kann jeder Hürlener bezeugen, dass seit der ersten, zwar lobenswerten,
aber doch nicht lückenlosen Kartierung von Dufour bloss noch kopiert und gepinselt und neu schattiert und ausgebessert worden ist.
In Hürlenen erzählen die Dorfältesten zwar die Geschichte eines
Kartographen, der vor noch nicht allzu langer Zeit vom Bundesamt für
Landestopografie ausgesandt worden sei, das Hürlenital zu ergründen.
Aber wie alle Geschichten, die von den Dorfältesten in Hürlenen erzählt
werden, endet auch die Geschichte des Kartographen in der
Hürlenischlucht. Den Taleingang, erzählen sie, den Taleingang hat er
noch gefunden, aber in der zweiten, spätestens in der dritten Serpentine ist der Kartograph vom Weg abgekommen und in die Schlucht gestürzt.
In Hürlenen nehmen alle Geschichten einen natürlichen Ausgang: Er oder
sie oder es ist oder sie sind in die Schlucht gestürzt. Und jeder, der
es wissen will, bekommt erzählt, dass Gott die Erdanziehung in der
Hürlenischlucht erfunden hat. Nirgends sei die Erdanziehung so heftig
und unberechenbar wie in der Hürlenischlucht. Um zurück zum Kartographen zu kommen: Die Hürlener sind nicht beleidigt, in keinem Kartenwerk
eingetragen zu sein. Im Gegenteil, es ist ihnen recht. Sie hätten nicht
gewusst, was sich ihr kleines Dorf erfrechen sollte, den anderen
Gemeinden den ohnehin eng bemessenen Raum auf der Karte streitig zu
machen. Sie selber bedürfen keiner Karte, sie wissen ja, wo sie zuhause
sind, und wer bloss auf die Dienste einer Karte hätte vertrauen wollen,
um nach Hürlenen zu gelangen, um den wäre es ohnehin schlecht bestellt
gewesen.
Denn was den Charakter dieses Dorfes noch vor seiner ausserordentlichen
geographischer Lage und seiner kartographischen Absenz ausmacht, ist der nicht anders als haarsträubend zu nennende Verlauf der Strasse, über
die es zu erreichen ist; ein übler, kaum in Stand zu haltender Karrweg,
der das Dorf in einer Unzahl von Serpentinen und entlang
schwindelerregender Abgründe mit der übrigen Welt verbindet. Unten, am
unscheinbaren Taleingang, wo die von der Hürlener Wald- und
Weggenossenschaft unterhaltene Privatstrasse ihren Anfang nimmt, steht
nicht umsonst ein von Wind, Wetter und Unfällen zerrüttetes
Gefahrenschild. Denn befahrbar, so wie das Wort im Unterland verstanden
wird, ist die Strasse nie: Im Herbst, Winter und Frühling ist wegen
Schneemassen und Lawinen kein Durchkommen, im Sommer können Gewitter,
Erdrutsch und Steinschlag den Weg innert Sekunden verwüsten.
Die Strasse ist ungeeignet, jemanden ankommen zu lassen. In Hürlenen
oben zu sein, das heisst allerlei, aber es heisst auch immer, die
Strasse noch vor sich oder sie soeben hinter sich gebracht zu haben. Die Strasse gehört nicht zum Dorf, aber auch nicht zur Welt, mit der sie
das Dorf verbindet.
Einer, der hin und wieder auf der Strasse anzutreffen ist, trägt den
Namen Samuel Haudenschild. "Houdesämu", wie er genannt wird, ist im Dorf dafür besorgt, die Milch, die nicht getrunken wird, zu Käse zu
verarbeiten. Haudenschild ist nicht nur Käsermeister, sondern auch,
zusammen mit Hilfskäser Jakob Zurbrügg - Besitzer des einzigen Hotels in Hürlenen. Gäste sind rar. Die einzige Übernachtung in den letzten drei
Jahren ist einem verirrten Wanderer mit verstauchtem Knöchel zu
verdanken.
Dass die Ruhe, mit der sich das Leben im Dorf hinzieht, jemals einer
Veränderung unterworfen sein könnte, dämmert Samuel Haudenschild erst
allmählich, und erst in jenen Wochen, als nicht nur einige Jüngere im
Dorf, sondern auch eine Mehrheit der drei Mitglieder des Gemeiderates
laut darüber nachdenken, die Strasse zu renovieren. Progressive Kreise
im Hürlenital, ja, solche Kreise gibt es, auch wenn sie nicht mit
anderen progressiven Kreisen verglichen werden sollten, machen sich
stark für einen Anschluss Hürlenens ans öffentliche Verkehrsnetz.
Die Sehnsucht ist maisgelb und heisst Postauto.
Die von Sägerei-Inhaber und Gemeindepräsident Peter Schlüechter,
"Sagipesche" genannt, unverbindlich angefragte Direktion der
Schweizerischen Postautobetriebe reagiert skeptisch. Sagipesche bekundet Mühe mit den Vorbehalten, mit dem abwimmelnden Ton, den er in der
Stimme des Vizedirektors, den er am Draht hat, herauszuhören glaubt.
Vielleicht hätte er doch nicht so offen sagen sollen, es sei sinnlos,
auf der Karte nach Hürlenen zu suchen.
Immerhin nimmt sich der Vizedirektor Zeit, Sagipesche klar zu machen,
dass aufgrund der geschilderten Strassensituation Hürlenens nicht an
einen fahrplanmässigen Betrieb eines Postautos zu denken sei. Ein
Postauto sei kein allradbetriebenes, kriechgängiges
Landwirtschaftsfahrzeug. Ein Postautokurs sei nur denkbar, wenn die alte Strasse durch eine neue ersetzt werde. Durch eine, die den übelsten
Abhängen und Felsschründen ausweiche, indem sie in einem Tunnel
verlaufe.
Dieses von einem entnervten Vizedirektor der Schweizerischen
Postautobetrieben barsch ausgesprochene Wort, dieses "Tunnel", setzte
sich im Gehörgang des Gemeindepräsidenten fest.